„Zeiten der Bedrohung – Zeiten des Aufatmens“

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Um was es geht

In dieser Woche wurde medial auf den 800. Tag des Krieges Russlands gegen die Ukraine berichtet, auf die Erschöpfung der Menschen im Land, auf die Müdigkeit der Soldaten und auf das Fehlen der Waffen in der Ukraine wurde immer wieder hingewiesen. Den von Bundeskanzler Olaf Scholz zu Beginn des Ukraine-Krieges benutzte Begriff der „Zeitenwende“ erläutert er selbst mit folgenden Worten: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“[1]

Gleichzeitig werden die Verstrickungen von deutschen Politikern und Lobbyisten in Geld- und Spionagegeschäften immer deutlicher. Die Rolle sogenannter „Sozialer Medien“, allen voran TikTok und Telegram, in der Beeinflussung junger Menschen durch antidemokratische Aufrufe und Angriffe gegen Politiker steigert sich in vielerlei Hinsicht ins Unerträgliche. Nationale und religiöse Tendenzen sollen auch mit Gewalt durchgesetzt werden, das belegen in dieser Woche der Beginn des Prozesses gegen die Reichbürgerbewegung um Prinz Reuß, die von einem Jahr mit Umsturzplänen gegen die Regierung Furore machten, und der Aufruf einiger Islamisten in Hamburg zur Errichtung eines Kalifates auf deutschem Boden.

Die von Olaf Scholz auf den Ukraine-Krieg bezogene Zeitenwende und andere bedrohende Entwicklungen sollen unser Thema für den Austausch sein. Es geht um die Frage, was diese Kriterien, was diese Erfahrungen der Bedrohung in uns auslösen, aber auch, wie wir diesen Kriterien, diesen Bedrohungen begegnen können. Diese Form der Zeitenwende vermag uns die Luft zum Atmen zu nehmen, von daher sind Räume und Zeiten des Aufatmens (vgl. Apg 3,20) um so wichtiger. Einige Gesprächsimpulse seien hier angeboten.

Die Impulse

  • Zur Definition von Gewalt: Allgemein bezeichnet Gewalt den Einsatz von physischem oder psychischem Zwang gegenüber Menschen sowie die physische Einwirkung auf Tiere oder Sachen. Soziologisch bedeutet Gewalt den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihre Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegen-Gewalt zu begegnen. Politisch bezeichnet man mit dem Begriff Staatsgewalt die (legitim angewandten) Mittel zur Durchsetzung der herrschenden Rechtsordnung. Es wird zwischen Gebietshoheit (Herrschaftsmacht über ein Gebiet und dort lebende Menschen) und Personalhoheit (alle Angehörigen dieses Staates) unterschieden.[2]

 Für den Austausch: Wo und wie erlebe ich allgemeine, soziologische oder politische „Gewalt“ unmittelbar, wo mittelbar? Wo und wie begegnet sie mir? Was löst sie bei mir aus? Kann ich ihr begegnen oder entkommen? Wähle ich den Weg, ausgeübter Gewalt durch Gegengewalt zu begegnen? Oder verzichte ich auf die Ausübung von Gewalt?

  • Zum Gewaltverzicht als Haltung des/der Einzelnen: In der Schrift “Between Cowardice and Violence” (Zwischen Feigheit und Gewalt) schreibt Mahatma Gandhi: „Ich glaube, dass ich dort, wo es nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt gibt, zur Gewalt raten würde. [… ] Mir wäre es lieber, Indien würde zu den Waffen greifen, um seine Ehre zu verteidigen, als dass es auf feige Weise zum hilflosen Zeugen seiner eigenen Unehrenhaftigkeit wird oder bleibt. Aber ich glaube auch, dass die Gewaltlosigkeit der Gewalt unendlich überlegen ist, dass zu vergeben mannhafter ist als zu bestrafen. Vergebung schmückt einen Soldaten. […] Aber das Abstandnehmen von Gewalt kann nur dann Vergebung genannt werden, wenn man die Macht zur Bestrafung hat; sie ist bedeutungslos, wenn sie vorgibt, von einem hilflosen Geschöpf auszugehen. Aber ich glaube nicht, dass Indien hilflos ist. Ich glaube nicht, dass ich eine hilflose Kreatur bin. Stärke kommt nicht von körperlicher Fähigkeit. Sie kommt von einem unbezwingbaren Willen.“[3]

 Für den Austausch: „pacificus“ steht nicht für friedensliebend, sondern für friedensstiftend. Habe ich Umgang mit friedensstiftenden Menschen? Sehe ich mich selbst als friedensstiftend? Wie steht es um meine Bereitschaft zur Vergebung, da, wo mir Macht zur Bestrafung gegeben ist? Habe ich selbst schon eine solche Vergebung erfahren?

  • In Zeiten der Bedrohung aufatmen können: Die Apostelgeschichte erzählt in ihrem 3. Kapitel, das gleich nach dem Pfingstereignis Petrus auf dem Tempelplatz in Jerusalem predigt. Der Predigt voraus geht die Heilung eines Gelähmten. Er springt umher und weiß nicht, wie ihm geschehen ist, ebenso die Menschen, die Zeugen der Heilung wurden. Die Predigt des Petrus gipfelt im Satz: „Kehr um und tut Buße, damit Eure Sünden getilgt werden, und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt und Jesus sendet als den für Euch bestimmten Messias“ (Apg 3,19f).

Für den Austausch: Gibt es eine Weise, eine Form der Umkehr, des Aufhörens, des Umdenkens und eines anderen Lebensstils, damit ich aufatmen kann? Wie kann ich mich in Zeiten der Bedrohung für Zeiten des Aufatmens für die Menschen um mich herum einsetzen? Was ist mein Plan?

Drei Thesen zur Diskussion

  •  Beim Einsatz von Gegengewalt sind die Motivation und die Haltung entscheidend: Wir tun dies, um den Menschen Schutz zu bieten und nicht, um den Gegner zu bestrafen. Wir schützen Unschuldige und handeln nicht aus Wut oder Feindseligkeit (vgl. Jay Garfield, Anm.3).
  • Garfield schließt das Interview mit den Worten: „Zugegeben, es ist enorm schwierig, ohne Wut, Hass oder Rachsucht Gewalt anzuwenden oder andere darin zu unterstützen. Doch das Prinzip der Gewaltlosigkeit verlangt dies von uns, auch wenn die äußeren Umstände dazu zwingen, äußerlich Gewalt anzuwenden. Wer mit der eigenen Meinung und Motivation nicht vorsichtig umgeht, sinkt auf das Niveau seines Gegners. Dann wird der Friede unmöglich, sei es der innere Friede oder der Frieden, den wir schaffen müssen, wenn wir die Waffen niedergelegt haben.“ (vgl. Jay Garfield, Anm.3).
  • „Der Friede besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er lässt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr und mit Recht ein ‚Werk der Gerechtigkeit‘ (Jes 32,17)“[4]

Köln, 05.05.2024
Harald Klein

[1] vgl.[online] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2131062/78d39dda6647d7f835bbe76713d30c31/bundeskanzler-olaf-scholz-reden-zur-zeitenwende-download-bpa-data.pdf [05.05.2024]

[2] Vgl. [online] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17566/gewalt/ [05.05.2024]

[3] vgl. den Artikel von Jay Garfield in Ethik heute: [online] https://ethik-heute.org/kann-man-heute-noch-pazifist-sein/ [10.04.2024]

[4] vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstituion Gaudium et spes, Art. 78.