25. Sonntag im Jahreskreis: „… solange er (noch) zu finden ist“ – oder: Palliative Ekklesiologie

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„Ja, da schau her…“

„Ja, da schau her…“, würden die in Bayern lebenden Menschen sagen. In den vergangenen Jahren hat sich in den Übersetzungen der Lieder und der Texte für den Gottesdienst vieles getan. Habe ich als Kind noch „Lasst uns loben, Brüder, loben“ gesungen, so hat der Gender-Mainstream daraus ein „Lasst uns loben, freudig loben“ gemacht. Und bei „Sonne der Gerechtigkeit“ wurde aus „Gott heißt jeden Sohn und Kind“ jetzt (ein wenig halbherzig) „Gott heißt jeden von uns Kind“. Gut so, da kann man nicht mäkeln. Mäkeln kann man aber, wenn nicht im Gesangbuch, sondern in der Bibel plötzlich Worte verändert werden, die dem Ganzen des Textes einen neuen Sinn geben. Der Anfangssatz aus der ersten Lesung bei Jesaja muss darunter leiden! Jes 55,6 heißt in der Übersetzung von Martin Luther: „Sucht den Herrn, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.“ Und man staunt, wenn man die Einheitsübersetzung vor ihrer Revision von 2016 zur Hand nimmt; er weist den gleichen Text aus: „Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt; ruft ihn an, solange er nahe ist.“ Und jetzt Achtung: Der Text der 2016 erschienen revidierten Einheitsübersetzung, der auch für die Lektionare und die Evangelien im Gottesdienst vorgegeben ist, legt vor: „Sucht den Herrn, er lässt sich finden; ruft ihn an, er ist nah!“ Das klingt doch anders, oder? Da ist die zweifache Bedingung „solange“ herausgenommen. Würde man diesen Vorgang retten wollen, könnte man hinweisen auf die Beständigkeit, die Treue, die zugesagte Nähe Gottes – da hat ein „solange“ einfach keinen Platz. Würde man den Augenblick auf die Situation der Kirche richten wollen, wie sie sich zeigt, könnte man – ich bitte schon jetzt um Verzeihung – vermuten, dass der neue Text nicht wahr haben will, dass das „solange“ sich auf eine Form von Kirche bezieht, die sich in ihrer äußeren Form zumindest im Niedergang befindet. Dann krankt die Übersetzung doch daran, dass sie das Sterben der Suche nach Gott in und mit der Kirche irgendwie nicht ernst nimmt, oder? Dann lehnen sich die Übersetzenden gegen das nahende Ende mit neuen Worten auf. In der gegenwärtigen Situation hat das „solange“ einen neuen Klang. Es ist nicht Gott, den man suchen soll, solange er sich finden lässt. Es sind Suchende, die wohl lange genug schon in der Kirche Gott gesucht haben, und die jetzt anderswo suchen.

Mal angenommen, das „Solange“ neigte sich dem Ende…

Dr. Holger Pyka, evangelischer Pfarrer in einem Stadtteil Wuppertals spielt gerne mit der Sprache, so scheint es, und seine Auftritte beim „Preachers Slam“ unterstützen die Vermutung. Auf seinem Blog[1] veröffentlichte er aus Anlass der letzten Kirchenaustrittsstatistik einen Essay mit dem Titel „Austherapiert. Plädoyer für eine palliative Ekklesiologie“[2]. In keinem Jahr haben so viele Christen den beiden christlichen Großkirchen per Austritt den Rücken gekehrt wie im vergangenen Jahr 2019. Aber Vorsicht: Es wäre ein vorschneller Schluss, zu sagen, diese Menschen hätten aufgehört, Gott zu suchen. Sie suchen zum großen Teil anders (bez. der Wege und Mittel) und woanders (bez. der Orte).

Pyka spricht in seinem Essay von einer austherapierten Kirche – und in einer Fußnote im Text wird er konkret: es gehe ihm nicht um die Kirche als theologische und damit in Teilen theoretische Größe, sondern um den in Deutschland volkskirchlich verfassten Mainstream-Protestantismus; ohne ihn gefragt zu haben, möchte ich seine Überlegungen gerne auch auf den in Deutschland volkskirchlich verfassten Mainstream-Katholizismus übertragen.

Jenseits der Schönsprecherei („er lässt sich finden“ statt „solange er sich finden lässt“) gäbe es viele Expert*innen, die ihre Expertisen zum gegenwärtigen Stand der Kirche abgeben und Therapien empfehlen. Pyka nennt die Konservativen („Die Kirche muss frommer werden“), die Invasiven („Aus unternehmensberaterischer Sicht empfehlen wir…“) und die Alternativen („Die Kirche muss bunter werden“). Es gibt Fastenkuren („Die Kirche sollte weniger…“), Reproduktionsmedizin („Die Kirche müsste die Familien stärken und mehr für die Taufe werben“), Aufstellungstherapie („Die Kirche müsste mehr in die politische Mitte“), Logopädie („Wir müssen unsere Predigt verbessern“), Krankengymnastik („Die Kirche muss beweglicher werden“) und Frischluftkuren („Die Kirche muss raus zu den Menschen“). Alle diese „Expert*innen“ nehmen bei allem besten Willen eines nicht ernst, noch nicht einmal zur Kenntnis: Die Form von Kirche, wie sie sich im Mainstream-Protestantismus und m.E. auch im Mainstream-Katholizismus zeigt, diese „Phänomenologie“ von Kirche ist „austherapiert“, die Möglichkeiten, Kirche wieder in die alte Form zu bringen, sind ausgeschöpft.

Pyka beschreibt in seinem Essay die Folgerungen der Annahme (im doppelten Sinne des Wortes) von der austherapierten Form von Kirche, ich lege Ihnen seine Diagnose und seine „Unsortierten Gedanken zu einer palliativen Ekklesiologie“ sehr ans Herz. Hier möchte ich aber gerne auf den Ausgangsvers der Lesung schauen, und nur auf den ersten Teil, auf das „Sucht den Herrn“ – wie kann ich, wie können Sie Gott suchen, wenn die Kirche in ihrer Phänomenologie, in ihrer Erscheinungsform austherapiert, also im Sterben ist?

„Sucht den Herrn…“

Zur sterbenden Erscheinungsform von Kirche, in der ich noch groß geworden bin, gehört, dass sie von jüngeren Menschen, aber auch von wachen älteren Menschen weniger „gefragt“ wird. Die von dieser Kirche weitergegebene „Theorie“ von Gott“ samt der „Disziplin“, mit der er zu suchen und zu finden sei, bleibt weitgehend ungefragt, allemal aber auch „unerhört“. An die Stelle der kirchlichen Lehr-Disziplin ist eine „Profession“, eine eigenständige Praxis getreten, in Form eines Anwendungssystem, das viele Wege aufzeigt, die ausgesucht werden können. Die „Bittsteller“ und „Fragenden“ von früher sind zu „Anwendern“ und „Ausprobierern“ von heute geworden. Und das Wichtigste dabei: Es zählt nicht mehr so sehr die Frage nach der behaupteten „Wahrheit“ einer Theorie als vielmehr die erlebte „Wirksamkeit“ als Kriterium der Stimmigkeit.

In den Sozialwissenschaften kundige Menschen merken, dass hier vom Wechsel einer modernen zur postmodernen Kirche die Rede ist. Kennzeichen der Moderne ist der Zugriff (z.B. Gott begegnen im gespendeten Sakrament), Kennzeichen der Postmoderne ist das Geschehen (z.B. Gott begegnen in der Begegnung untereinander, im geteilten und gegenseitig gedeuteten Leben). „Sucht den Herrn“ – das kann kirchlich nicht mehr über die Sakramente, die Kommunion- und Firmvorbereitung bzw. Konfirmationsvorbereitung geschehen; die mögen in ihrem Zugriff auf Lebenssituationen oder Lebensalter eine Türöffner-Funktion haben – oft ist es das erlebte Gegenteil. Diese Form von Kirche ist, so Pyka, austherapiert. An diese Stelle ist das Geschehen, das Erleben, das Deuten getreten.

„… er lässt sich finden“

In einer austherapierten Kirche der Moderne kann man nur auf die werdende Kirche in der Postmoderne verweisen. Kennzeichen der Postmoderne, auch der Kirche in der Postmoderne, ist das Geschehen, ist das Erleben, und seine Deutung! Ich habe keine Antwort darauf, wie das geschehen kann und geschehen soll. Ich entlaste mich – und andere – aber auch dadurch, dass ich weiß, wie sehr sich so etwas im gemeinsamen Geschehen entwickelt. Ich denke an die Frage eines Muslims, wie uns Christen das Beten in der Zeit von Corona helfen könne, und an die verschiedenen Formen von Zusammenkünften, die daraus entstanden sind. Ich denke an das Wandern im Kreis der „Gefährten“, alles Sozialarbeiter, manchmal mit Partnerinnen, die einmal monatlich mit einem Stichwort („Heimat“, „Bildung“, „Identität“) einen Tag wandernd und im Austausch unterwegs sind, und wo die Rolle der Religion, besser: der Spiritualität, als Ressource immer einen Platz hat. Mir wird deutlich, wie guttuend die neue Übersetzung des Verses ist. „Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt“ – wenn es nur an der Vermittlung und im „Zugriff“ der Kirche geschehen könnte, dass ich Gott finde, wäre damit Schluss, wenn diese Form von Kirche austherapiert ist und stirbt. Das „Sucht den Herrn, er lässt sich finden“ ist viel weiter. Es nimmt sogar die sterbende Gestalt von Kirche mit auf, geht aber weit über sie hinaus – und das ohne Wertung! Was für eine spirituelle Glanzleistung.

Mir macht dieser eine Vers wirklich Lust auf die Suche nach Gott und seiner Nähe in dem, was mir geschieht, was an mir und durch mich geschieht, in dem, was ich erlebe, und in der Deutung all dessen auf Gottes Nähe und Liebe hin. Wenn ich Kirche so weit denke, dass all dies Platz in ihr hat, dann kann auch eine palliative Ekklesiologie ihren Laden dicht machen, dann lebt Kirche, postmodern lebt sie, und ich lebe dann gerne in ihr. Aber wahrscheinlich braucht es noch etwas, um mit dem Bayern lebenden Menschen sagen zu können: „Ja, da schau her!“

Amen.

Köln, 20.09.2020
Harald Klein

[1] Vgl.[online] https://kirchengeschichten.blogspot.com [20.09.2020]

[2] Vgl. [online] https://kirchengeschichten.blogspot.com/2020/06/austherapiert-pladoyer-fur-eine.html?m=0 [20.09.2020]