05. Sonntag der Osterzeit: Als Auferstehende leben

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„Ich bin der wahre Weinstock“

In der letzten Predigt habe ich Dir in einer kleinen exegetischen Vorbemerkung einiges zu den „Ich-bin-Worten“ geschrieben. Anders als die Alltagswelt der Gleichnisse der synoptischen Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas greift Johannes in seinen Ich-bin-Worten auf eine eigene Metaphorik zurück, in denen er zentrale Symbole mit einer ebenso klaren wie ambivalenten Symbolik benutzt. Ob sie für Dich eher „klar“ oder eher „ambivalent“, vielleicht sogar „bedrohlich“ ist, entscheidest Du selbst. Im pathologischen Fall könnte man sogar sagen: Es entscheidet sich in Dir und für Dich.

Heute also das „Ich bin der wahre Weinstock“. Für einen tiefen, einen klaren und leider auch für einen ambivalenten Umgang mit dieser Selbstbeschreibung Jesu genügt es völlig, Dir einen „Raum der Kontemplation“ zu gönnen. Einen inneren Raum, der Dir ein „heiliger Raum“ („Tempel“) sein kann und in dem Du zusammen („kon-„) mit den Worten, die Jesus Dir vorlegt, zusammenkommst. Wenn Du in diesem „Tempel des Leibes“ verweilst, wenn Du die Ich-bin-Worte aus dem Evangelientext hörst, sie innerlich ausmalst und dann wahrnimmst, was sie an Stimmungen, Emotionen Haltungen hervorzurufen fähig sind, kann es sein, dass sich eine Antwort an Jesus – sei es verbal, sei es in Stimmungen – entwickelt.

Wie ist das wohl bei Dir mit dem „Bleiben“, dem „Abschneiden, oder „Reinigen“, dem „reiche Frucht bringen“ und der „Unfähigkeit, solches zu tun, wenn Du von Jesus getrennt bist“? Wie bedrohlich klingt Dir das „Weggeworfen und im Feuer verbrannt werden“? Und was regt sich in Dir beim Aufruf, „in ihm zu bleiben“ und zu „bitten um alles, was Du willst: Du wirst es erhalten“?

Für eine geistliche Zeit, eine Stunde im Exerzitienprozess oder einen Tagesabschluss würde das für heute schon genügen. Du wüsstest, wo Du im Blick auf Jesus stehst, vielleicht aber auch, wie es um Dich und Deine Beziehung zum Auferstandenen steht.

Mich treibt allerdings noch etwas anderes!

» Sie waren merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem eigenen Summen; Man konnte sehen, dass sie nicht mehr recht wussten, was sie taten. Sie saßen stundenlang da und ließen sich gehen, bis es ihnen einfiel, dass sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte sie weiterhin niederfallen.«
Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd.5, Erste Abteilung: Prosa, 2. Aufl., 109-346, hier: 260.

Fruchtlos-furchtvoll leben – wie die Fliegen im Herbst

Ich sehe in meinem Leben Emil Noldes Bild vom „großen Gärtner“ am Werk, wenn ich das Gleichnis vom Weinstock höre. Und manchmal freudig, oft schmerzhaft durchlebe ich in meiner Kontemplation, in meinem Verweilen in diesen Sätzen des Johannes-Evangeliums vor allem das, was in Vers 2 zu lesen ist. Da sagt Jesus: „Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er (d.i. der Vater, der der Winzer ist) ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie Frucht bringt.“ Abgeschnitten sein von etwas oder von jemandem kann heißen, dass unsere Weise der Zugehörigkeit oder der Zusammengehörigkeit fruchtlos geworden ist, keine Frucht mehr bringt, verkommt und abgeschnitten gehört. Das geht nicht ohne Schmerz, und der kann dauern. Aber es geht ums Leben. „Auf andere Weise fruchtbar sein, fruchtbar leben“ war einmal die Umschreibung eines befreundeten Ehepaares, die keine Kinder bekommen konnte. „Auf andere Weise fruchtbar sein“ ist eine der wenige positiven Deutungen, die mir für die Wahl eines zölibatären Lebens absolut hilfreich ist.

Ein Gegenbild, ein Festhalten-wollen des Lebens, das keine Frucht mehr in sich trägt oder keine Frucht mehr verheißt, in Richtung eines furchtvoll-fruchtlosen Lebens schildert Rainer Maria Rilke in seinen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge am Bild der Fliegen im Herbst, so dunkel, dass es mich an Franz Kafka erinnert. Er schreibt: „Ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten Nachtfrösten die Fliegen in die Stube kamen und sich noch einmal in der Wärme erholten. Sie waren merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem eigenen Summen; Man konnte sehen, dass sie nicht mehr recht wussten, was sie taten. Sie saßen stundenlang da und ließen sich gehen, bis es ihnen einfiel, dass sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte sie weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und endlich krochen sie überall und bestarben manchmal das ganze Zimmer.“[1]

Das sind die Situationen, die fruchtlos – aber überhaupt nicht furchtlos – sind, wenn irgendwas oder irgendwer an Deinem Leben herumschneidet, wenn Kälte zum Rückzug treibt, wenn das Summen des Lebens und das Geräusch, dass das eigene Leben macht, Erschrecken hervorruft, wenn die Erkenntnis, dass du noch lebst, Dich ins unbedachte Leben stürzen lässt, nicht wissend, was Du dort sollst, und wieder und wieder fallend, bis Dein ganzes Lebenshaus „bestorben“ ist, so schreibt es Rilke. Hier finde ich in seinen Worten das Gefühl, das ich wahrnehme, dann, wenn ich an Fasern meines Lebens, an „Reben“ festhalten will, von denen ich weiß, dass sie keine Frucht mehr bringen. Da hoffe ich auf Noldes „großen Gärtner“ und seine Reinigung, auf Jesus als den wahren Weinstock in mir und auf die eigene Einsicht, den Mut, dem Feuer das anheimzustellen, was ins Feuer gehört.

» ... und sollte sie abfallen, so fällt sie in die Fülle des Künftigen und trägt noch in ihrem letzten Zerfall dazu bei, es reicher, bunter, drängender und wachsender zu machen. «
Rainer Maria Rilke (1950): Brief an Annette de Vries-Hummes vom 25. August 1915, in: Rilke-Archiv Weimar (Hrsg.): Briefe, zwei Bände, Insel-Verlag, Wiesbaden.

Fruchtvoll-furchtlos leben – in der Fülle des Künftigen

Neben diesem deprimierend-schmerzvollen Bild der sterbenden Fliegen bietet Rilke aber auch ein anderes Bild, das eher eine fruchtvoll-furchtlose Perspektive aufzeigt. Es findet sich in einem Brief Rilkes an Annette des Vries-Hummes und klingt wie eine tröstende Botschaft in einen Schicksalsschlag hinein. Ohne die Vorgeschichte, auf die geantwortet zu kennen, enthalten Rilkes Worte einen starken Impuls in Richtung eines fruchtvoll-furchtlosen Lebens. Rilke schreibt: „Man kann sich die Weiten und Möglichkeiten des Lebens gar nicht unerschöpflich genug denken. Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos; irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen, zu einer Blüte, zu einer Frucht. Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehen wird auch schon ein Insekt sein, das aus dieser Blüte Reichtum trägt, oder ein Hunger, dem diese Frucht willkommen ist. Und sollte sie bitter sein, so wird sie doch mindestens einem Auge erstaunlich gewesen sein und wird ihm Lust gemacht haben und Neugier nach Formen und Farben und Hervorbringungen des Dickichts; und sollte sie abfallen, so fällt sie in die Fülle des Künftigen und trägt doch in ihren letzten Zerfall dazu bei, es reicher, bunter, drängender und wachsender zu machen.“[2]

» Einer Auferstehung
geht immer der Tod voraus.
Auferstehend leben kann,
wer eine Begegnung mit dem Tod
überwunden hat. «
Anonymus

Der österliche Mensch: Auferstehend leben

Es ist eine Binsenweisheit, dass vor der Auferstehung der Tod steht; auferstehen kann nur, wer oder was vorher gestorben ist. In dieser Logik des Begriffes wird Dir noch kein Auferstandener begegnet sein. Kein Wunder, oder?

Du kannst es einmal wagen, den Begriff des „reiche Frucht tragen“ als Ausdeutung der „Auferstehung“ zu bemühen. Dann richtet sich alle Erfahrung, die oben dem Weinstock zugeschrieben wurde, auf dieses „reiche Frucht tragen“ hin aus: das „Abschneiden, oder das „Reinigen“, die Erwartung, „reiche Frucht“ zu bringen und der „Unfähigkeit, solches zu tun, wenn Du von Jesus getrennt bist“? Wie bedrohlich klingt Dir jetzt das „Weggeworfen und im Feuer verbrannt werden“? Und was regt sich jetzt in Dir beim Aufruf, „in ihm zu bleiben“ und zu „bitten um alles, was Du willst: Du wirst es erhalten“?

Weil Du noch mitten im Leben stehst und ins Leben verstrickt bist, kannst Du per definitionem nicht als Auferstandener,als Auferstandene leben, dem geht halt der Tod voraus. Du kannst der Partizip-Bildung danken: Denn als Auferstehender, als Auferstehende leben kannst Du. Rilkes Stütze, sein Geländer, an dem Du dafür Halt finden kannst, ist sein Wort von der „Fülle des Künftigen“.

Es braucht diesen Eingriff des Reinigens in jedem Leben, immer dann, wenn die Fruchtbarkeit des Lebens wovon auch immer und von wem auch immer eingeschränkt oder verhindert wird. Der Prozess des Reinigens ist schmerzhaft, keine Frage, aber er ist nur dann Prozess des Reinigens, wenn das Fruchttragen intendiert ist, ansonsten ist es eine Spielart des Maso- oder des Sadismus. Das , was Du lässt in diesem Prozess des Reinigens, oder das, was Dir genommen wird, sagt Rilke, das fällt nicht ins Leere, wird nicht von den Flammen einfach gefressen. Es fällt in die „Fülle des Künftigen.“

Leben als Auferstehender oder als Auferstehende heißt Leben im Vertrauen auf die „Fülle des Künftigen“ hin. Oscar Wildes berühmtes Wort besagt. „Am Ende ist alles gut, und wenn nicht alles gut ist, ist es nicht das Ende!“ Und das Schönste dabei: Warum sollte diese „Fülle des Künftigen“ mit dem endgültigen Fall des Lebens ins Nichts zu Ende sein? Wer weiß, was kommt – in der „Fülle des Künftigen“.

Man kann gespannt bleiben, und man kann bleiben – in ihm.

Amen.

Köln, 22.04.2024
Harald Klein

[1] Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rilke, Rainer Maria, Sämtliche Werke, Bd. III-1, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 260.

[2] Rainer Maria Rilke, Aus einem Brief an Annette de Vries-Hummes, geschrieben in München am 25.08.1915, Quelle: [online] https://www.marschler.at/worte-rilke-briefe-annette-de-vries-hummes.htm [05.03.2024]