13. Sonntag im Jahreskreis – Die Kirche attraktiver machen?

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Ernüchternde Zahlen

Sie war in den Früh- und Spätnachrichten in beiden öffentlichen Programmen Thema – die Kirchliche Statistik für das Jahr 2019. Wenn auch gefühlt keine Überraschung, so berühren und beunruhigen die vorgelegten Zahlen doch. In keinem anderen Jahr sind so viele Menschen sowohl in der evangelischen wie in der katholischen Kirche ausgetreten wie im vergangenen Jahr 2019. Die Statistik verzeichnet 270.000 Austritte sowohl in der einen als auch in der anderen Kirche. Eine Freiburger Studie des Forschungszentrums Generationenverträge ergänzt, dass bis 2060 die Zahl der Kirchenmitglieder – in beiden Kirchen wohlgemerkt – von 44,8 Mio Christen auf 22,7 Mio Christen sinken wird.

Die Zahlen lassen sich nicht schönreden, so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Und auf der Internetseite der Deutschen Bischofskonferenz[1] stellt er sein Rezept vor: den Reformweg weiter beschreiten und sich im Synodalen Weg der Realität stellen. Man müsse, so ein anderer Kommentar von ihm, die Kirche attraktiver machen.

» Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten, wo kämen wir hin,
und keiner ginge, um zu sehen,
wohin wir kämen,
wenn wir gingen. «
Kurt Marti (1921-2017)

Attraktive Kirche für Gehende?

Über diesen Begriff der „attraktiven Kirche“ möchte ich mit Ihnen nachdenken. Hilfreich wäre allemal, die danach zu fragen, die gegangen sind, gerade gehen oder gehen wollen. Was sind deren Gründe des Gehens, und umgekehrt: Was wären Gründe zum Bleiben?

Ein erster Angang: die Essener Studie zum Kirchenaustritt von 2013-2018. Das Verlassen der Kirche, so die Studie, spiele sich auf sieben Dimensionen[2] ab, die ich gerne benennen möchte:

  • die individuelle Dimension: Kirche wird individuell nicht mehr als Heimat und sinnstiftend erlebt;
  • die interaktive Dimension: Kirche wird nicht mehr als Raum des Gemeinschaftslebens, der Begegnung, der Sozialisation und des Zusammenhalts erlebt;
  • die gesellschaftliche Dimension: Kirche wird nicht mehr als gesellschaftlich, politisch, sozialkaritativ relevant oder engagiert erlebt;
  • die liturgische Dimension: Das persönliche Erleben und die persönliche Ansprache in Gottesdiensten, Hochzeiten, Beerdigungen usw. wird als ungenügend, weltfremd erlebt;
  • die strukturelle Dimension: Die Wahrnehmung der Aufgabe der Kirche, da zu sein als Orientierung gebende Instanz in der Gesellschaft incl. genügendem Personal, genügender Struktur und genügender Gebäude, leidet;
  • die finanzielle Dimension: Die Frage nach der Kirchensteuer – Kirche wird als zu teuer erlebt im Rahmen einer persönlichen Kosten-Nutzen-Rechnung;
  • die kommunikative Dimension: Hier geht es um Modernität, Image, Reputation der Kirche und im Miteinander.

Die Studie zeigt: Wesentliche Gründe für Kirchenaustritte sind die beiden Phänomene der „Entfremdung“ und der „fehlenden Bindung“. Dies wird bei der Zählung der den Gottesdienst Besuchenden deutlich. Nur noch gut 10% der Kirchenmitglieder nehmen am gottesdienstlichen Leben teil, gut 90% nutzen wenige oder keine kirchlichen Angebote. Wenn dann die Studie für „neue Wege der Beteiligung“ und von einer „verbesserten Erreichbarkeit von kirchlichen Institutionen“ spricht und ein professionelles Mitgliedermanagement anregt, kann eine Spiritualität für Soziale Berufe zu Recht enttäuscht sein. Hinter all dem steht dann immer noch das Bild einer „Komm-Kirche“, man geht davon aus, dass ein „barrierefreier Zugang“ zu Kirche als Institution, ein zweimal jährlich (in Köln als „Sommerzeit“ und „Adventszeit“ überschriebenes) Hochglanzmagazin als Hinweis, dass es diese Institution (noch/auch) gibt und ggf. regelmäßig verschickte Schreiben zu Geburtstagen usw. den scheidenden Mitgliedern das Bleiben erleichtere.

Statt „Komm-Kirche“ ist das Bild der „Geh-Kirche“ für die, die im Gehen sind, mit Sicherheit attraktiver. Die Essener Studie sieht das Erscheinungsbild der Kirche mit einer „nicht mehr zeitgemäßen Haltung“, ihrem Image der Rückschrittlichkeit, den Bereichen der Macht- und Hierarchiewahrnehmung und der Sexualmoral als eine Form von Kirche an, die auch mit einem barrierefreien Zugang nicht gesucht werden wird.

Überraschen kann umgekehrt vielmehr das einfache Zugehen auf die Menschen, die eben nicht zu den 10% Kirchgänger gehören. Überraschen kann eine „Kirche mit offenen Rändern“, in der auch diejenigen, die eben nicht den Gottesdienst besuchen, zu Recht und mit gutem Gefühl erleben, dazuzugehören. Es braucht dazu kein eigenes Dezernat, keine Stabsstelle oder ein Konferieren mit vielen Verantwortlichen im Vorfeld – es braucht eine Freude an den Menschen, ein Interesse an ihren Fragen, eine Zugewandheit zu ihren Freuden und Hoffnungen, zu ihrer Trauer und Angst.

Glauben ohne Kirche!

Mich macht sprachlos, dass in diesen ganzen Fragen so wenig von Christus selbst die Rede ist. Deutlich spürbar ist eine Entfremdung zwischen Christen und ihrer Kirche – deutlich spürbar ist aber auch die Suche nach einer das Leben deutenden und Sinn und Wert schenkenden Spiritualität. Das ist für mich der eigentliche Skandal, dass gerade die 25-35jährigen diese Suche verkörpern wie keine andere Generation, und dass gerade in diesem Alter der Kirchenaustritt besonders hoch ist.

Entfremdung von der Kirche meint nicht nur Entfremdung von religiösen Inhalten, die der Katechismus vorgibt, oder von frommen Riten, Ritualen und Gebetsweisen, die uns das Gotteslob anbietet. Es meint Entfremdung von einer Kirche, die einmal dafür stand, zu Christus zu führen. Das macht einerseits traurig – auf der Suche nach Spiritualität  scheint Kirche draußen vor zu sein. Das macht andererseits unglaublich froh – da sind junge Menschen auf der Suche nach einer sie tragenden Spiritualität[3], nach ihrem eigenen Weg, Spiritualität zu finden, und man kann diesen Weg auch jenseits der Institution begleiten und sich begleiten lassen.

Attraktive Gehende für Kirche!

Ich möchte Kirche gerne unterteilen in die Bereiche „Religion“ – als Lehre, von der man sagt, sie sei zu glauben, will man dazugehören („fides quae creditiur“, der Glaube, der geglaubt wird, heißt das in der Theologie), „Frömmigkeit“ – als Weisen, in der sich Glaube ausdrückt, vom Gottesdienst über Gebet bis hin zu Werken der Barmherzigkeit („fides qua creditur, der Glaube, wie er geglaubt wird, heißt das in der Theologie) und der „Spiritualität“, dem Geist, der alltagstauglich und dialogisch ist, der sich auf ein Mehr an Menschlichkeit ausrichtet und der, sofern es christliche Spiritualität ist, die Orientierung an Jesus Christus sucht. Es mag sich um die Lehre streiten, wer will, es mag fromme Werke anbieten, wer will, um den zum Gehen Entschlossenen begegnen zu können, braucht es Spiritualität. Und es braucht eine fragende Haltung, die zu den Gehenden geht und nicht auf deren Kommen wartet.

Es geht weniger um eine neue Attraktivität von Kirche, die hergestellt werden muss. Es geht um die Trauer um die Attraktivität derer, die zum Gehen entschlossen sind. Nur in dieser Haltung ist ein wirkliches Gespräch auf Augenhöhe und eine spirituelle Begegnung möglich. Sich um „Religion“ im oben beschriebenen Sinne streiten oder in Werken der „Frömmigkeit“ aufzugehen, heißt, diese Attraktivität verloren gehen zu lassen. Ins Wortfeld „Attraktivität“ können Sie Worte nehmen wie „abwechslungsreich“, „erstrebenswert“, „faszinierend“, „fesselnd“, „gefragt“, „interessant“, aber auch „anmutig“, „charmant“, „liebenswert“, „sympathisch“, „kernig“, „knackig“. Im Hingehen zu denen, die zum Gehen entschlossen sind, darf man sich auf diese ‚Formen der Attraktivität der Gehenden freuen – aber mehr noch: man darf selbst gehen in der Attraktivität Christi, mit einer attraktiven Spiritualität, die das „fides qua“ und fides quae“ ruhig einmal hinter sich lassen kann. Leitspruch dafür konnte das Wort des Priesters Nehemia sein, das er zur Einweihung des wiederaufgebauten Tempels sprach: „Macht euch keine Sorgen, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!“ (Neh 8,10).

Sich begegnen in der Freude am Herrn

Wenn „Entfremdung“ und „fehlende Bindung“ zu den Hauptgründen des Verlassens der Kirche gehören, könnte der Brückenschlag und ein weit gefächertes Angebot an Bindung und Verbindlichkeit ein guter Ansatz sein, dem Verlassen etwas entgegenzusetzen. Die Lesung des heutigen Tages erzählt von der vornehmen Frau aus Schunem, die den Propheten Elischa als heiligen Gottesmann erkennt und ihm für seinen Besuch ein Obergemach mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem Leuchter herrichtet, in das er sich zurückziehen kann, sooft er zu ihr und ihrem Mann kommt. Und genauso macht es Elischa. Gastfreundschaft ist so eine Brücke, gemeinsames Essen und Trinken. Die beiden Theologen Peter Bubmann und Bernhard Sill gaben 2008 ein Buch mit dem Titel „Christliche Lebenskunst“ heraus. Vierzig kurze Betrachtungen zur christlichen Lebenskunst werden in sechs Teilen beschrieben: Die Sinne schärfen – Dem Leben Form und Ausdruck geben – Miteinander auskommen – Die Wechselfälle des Lebens bestehen – Dem Leben Ziel und Richtung geben – Spirituell leben. Jedes, wirklich jedes Kapitel dieses Buches kann zur Brücke werden, nicht, um jemanden am Gehen zu hindern oder zurückholen zu wollen, sondern um – mir selbst wie dem anderen – deutlich zu machen, wo ich stehe und warum ich so stehe. Wenn diese Verdeutlichung in der Freude am Herrn, in seinem Geist geschieht, wird es einen Brückenschlag geben, auch wenn keiner weiß, wie er letztlich aussieht und wohin er führt. Dieses „eine Brücke schlagen“ ist das Wesentliche, nicht das Hindern am Gehen oder der Erfolg eines Zurückholens.

Amen.

Köln, 27.06.2020
Harald Klein

 

[1] Vgl. [online] https://www.katholisch.de/artikel/25979-kirchliche-statistik-2019-der-grosse-schock-und-keine-hoffnung-mehr [37.06.2020]

[2] Vgl. [online] https://www.deutschlandfunk.de/kirchenmitgliedschaft-zu-teuer-zu-altmodisch-zu.886.de.html?dram:article_id=411760 [27.06.2020]

[3] Vgl. dazu Mönius, Claudia (2020): Religion ohne Kirche, München – und dazu das Interview [online| https://www.deutschlandfunkkultur.de/claudia-moenius-religion-ohne-kirche-es-geht-darum-das.1278.de.html?dram:article_id=472902 [27.06.2020]