2. Sonntag der Osterzeit – Thomas, oder: Eigenhändig glauben

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Jerusalem, kurz nach Ostern

Da sitzen sie, am Abend des ersten Tages der Woche, die zehn Jünger, ein elfter Jünger, Thomas, fehlt, und der Zwölfte hat sich das Leben genommen. In seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium schildert Eugen Drewermann die Situation mit seinen eigenen Worten: „Sie hocken wieder drinnen – ausdrücklich wird es versichert – bei verriegelten Türen. Immer noch vegetieren sie in einer Burg der Angst, in der sie sich verschanzt halten. Der Kontakt zu anderen, der Austausch im Rahmen gewohnter Verbindlichkeiten ist wie abgeschnitten. Jeder Trauende ist in gewisser Weise auf sich selbst zurückgeworfen, und es gibt für ihn scheinbar keine Gründe zum Weiterleben, außer er findet sie wieder in seinem eigenen Inneren.“[1] Die Furcht vor den Juden und von den „Herren“ der Religion ist es, die sie zusammenführt; jeder einzelne verharrt in seiner Trauer, und die Furcht vor denen da draußen eint sie.

Dann tritt Jesus bei verschlossenen Türen in ihre Mitte, sein Gruß „Friede sei mit euch!“ bleibt unerwidert, sprachlos sind alle zehn. Sie finden ihre Sprache, ihre Worte wieder, als der vermisste Elfte, als Thomas zu ihnen stößt.

» Eine schöne Definition eines erwachten Menschen: ein Mensch, der nicht mehr nach der Pfeife der Gesellschaft tanzt, ein Mensch, der zu der Musik tanzt, die aus ihm selber kommt. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 175.

Glauben im Wir – Glauben im Ich

„Wir haben den Herrn gesehen“ – so empfangen sie ihn. An die Stelle einer kollektiven Furcht ist eine kollektive Glaubensüberzeugung getreten: „Wir haben den Herrn gesehen“. Sogar theologisch einwandfrei. Da kann Thomas nicht mitreden.

Ich glaube nicht, dass es Unglaube dem Auferstandenen gegenüber war, auch nicht Zweifel an dem, was die anderen sagten – aber sowohl die Botschaft dessen, was sie erlebt hatten („Wir haben den Herrn gesehen!“) als auch die Verwendung der Titel, die sich das Glaubenswissen zu eigen machte („Wir haben den Herrn gesehen!“) genügen dem Thomas nicht, um einen Grund zum Weiterleben in seinem eigenen Inneren zu finden. – Nebenbei gesagt, ist das für mich auch eine Erklärung dafür, dass Menschen die Kirche verlassen: weder die Botschaft, was andere erlebt haben, noch die Titel, die das Wesen Christi und sein Wirken umschreiben, haben genügend Prägekraft, um zu bleiben. Damit Glaube in mir leben kann und ich im Glauben, braucht es die Gründe zum Bleiben in meinem eigenen Inneren! Es ist das „Ich glaube“ und das „Ich widersage“, das in der Tauferneuerung der Osternacht bekannt wird. Wenn beides nicht aus der eigenen Persönlichkeit mit Leben gefüllt bzw. erfüllt wird, ist es nichts mit dem Glauben – „man“ gehört dann höchstens noch „so dazu“.

» Die Sinne still, klar der Verstand, nicht dreist, nicht gierig sei sein Verhalten. «
Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben, Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 4. Aufl., 11.

Der Friede des Geistes – als Grund zum (Weiter-) Leben im eigenen Inneren

In der Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte geht es um den Frieden des Geistes als Ziel des Lebens. Das wäre den Jüngern in ihrer Abschottung zu wünschen. Buddha empfiehlt als eine der Gesinnungen, die dahin führen können: „Die Sinne still, klar der Verstand, nicht dreist, nicht gierig sei sein Verhalten.“[2]

Man könnte meinen, Thomas habe diese Rede und die hier angebotene Gesinnung gekannt. Sein „Wenn…, dann…“ haben nichts von Zweifel, noch weniger haben sie etwas von Unglauben. Trotz der Trauer hat er „stille Sinne“, er will berühren; und er will das berühren, woran er den Auferstandenen erkennt. Dann, und so formuliert er seinen Weg, seine Hoffnung, dann kann in dieser schrecklichen Situation des Verlustes und der Zerstörung der Friede des Geistes neu erwachen, neu erwachsen. Aber: Es ist nicht das Wort der anderen, es ist das eigene Erleben und die eigeneErfahrung (i.S.v. Interpretation des Erlebten), die diesen inneren Frieden hervorlocken und neu erwecken kann.

» Freilich, was wir vom Mann aus Nazareth gelernt haben, muss sich nun bewähren gegen eine ganze Welt. Ein Ende hat das Verriegeln der Türen, ein Ende das Warten drinnen, ein Ende das Verkriechen aus Angst vor den Gottesbesitzern. Was bleibt, ist das Hinausgehen, geschlossen mit sich selber und entschlossen in sich selber, offen und ohne Ausgrenzung, gemeinsam und fähig, eigenem wie fremdem Leid nicht länger mehr auszuweichen, sondern es anzunehmen und aufzunehmen. Man wird [...] anderen stets nur bis dahin helfen können, bis wohin man selber gekommen ist. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 348.

Die Hände und die Seite Jesu berühren

Acht Tage darauf die gleiche Szene, sie sind immer noch hinter verriegelten Türen, in einer Burg der Angst, ohne Kontakt und Austausch, zurückgeworfen auf die je eigene Trauer – nur: jetzt ist Thomas dabei. Sie können die Begegnung in Joh 20,19-31 nachlesen. Drei Punkte möchte ich hervorheben:

Ein Erstes: Jesus zeigt ihn die zerschlagenen und zernagelten Hände, die jetzt wieder lebendig sind. Noch einmal Eugen Drewermann: „Denken sollte man, dass für Thomas in der Gestalt Jesu der Grund dafür gestorben ist, eigenhändig leben zu dürfen. Man müsse sich dann eine biographische Vorgeschichte ausmalen, in der dieser Apostel eine Berechtigung, einen Mut, selbst sein Leben in die Hand zu nehmen, nie wirklich besessen hat; er muss die Fähigkeit zur ‚Eigenhändigkeit‘ seines Lebens, ähnlich wie Maria aus Magdala, überhaupt erst an der Seite Jesu bekommen haben.“[3] – Thomas sucht eine Eigenhändigkeit seines Lebens und seines Glaubens, und beides hat weder mit Zweifel noch mit Unglauben zu tun.

Ein Zweites: Jesus fordert Thomas auf, seine Hand in seine aufgerissene Seite zu legen. Die Soldaten haben Jesus im wahrsten Sinne des Wortes „aufgespießt“[4] Johannes erzählt, dass aus der von der Lanze durchstoßenen Seite Jesu Blut und Wasser flossen (vgl. Joh 19,33-37), Jesus ist bis zum Innersten „ausgeblutet“. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Thomas jetzt ins Leere greift. Er berührt den, dem er sein Herz geschenkt hat, an der Stelle, die nicht nur am verletzlichsten, sondern die sogar tödlich für Jesus war. Er hat das „Herz des Erlösers“ gespürt, und alles oder auch alle, die Platz haben in diesem Herz. Und darin findet er den Grund zum Weiterleben – im lebendigen Auferstandenen und über ihn in sich selbst. In einem Satz gesagt: Es gibt Berührungen eines anderen Menschen, die mich ganz neu ins Leben rufen – sei es, dass ich berühre, oder sei es, dass ich berührt werde.

Ein Drittes: Thomas ist der Einzige, der mit dem Auferstandenen ins Gespräch kommt. „Mein Herr und mein Gott“ – was ein altes formelhaftes Glaubensbekenntnis war, wir hier nicht einfach daher gesagt, sondern ist mit Erfahrung gesättigt. Was Thomas auszeichnet, ist, dass er kein „Gottesbesitzer“ ist, der die „Wahrheit“ Gottes in Dogmen, Bekenntnissen, Geboten und verboten ausdrücken will (vielleicht ist er in dieser Hinsicht wirklich ein „ungläubiger Thomas“). Er ist ein Gottesbegegner, ein Gotterfahrener, der vom Auferstandenen berührt wurde, der den Auferstandenen berührt hat und dem seine Größe, seine Reife und seine Kraft in diesen (ich vermute immer wiederkehrenden) Momenten der Berührung erwuchs.

Um es auch im Blick auf Glaubensweitergabe, Katechese oder sonstige Bildungsarbeiten im kirchlichen Raum zu sagen: Thomas suchte keinen „Glauben aus zweiter Hand“ und keine Glaubenszeugen oder -zeugnisse. Er wollte „eigenhändig“ glauben, mit stillem Sinn, mit klarem Verstand, nicht dreist und nicht gierig im Verhalten. Das geht nicht hinter verschlossenen Türen und in Angst und Furcht. Dazu muss man hinausgehen, in genau dieser Gesinnung, genau in diesem Moment, genau in diese Welt.

So wünsche ich dem Thomas und all denen, die in seiner Spur gehen, diese Gesinnung, und dass ihnen Menschen begegnen, die diese Gesinnung mit ihnen teilen. Das sind berührende Begegnungen. Man nennt es Ostern, oder auch „Begegnung mit dem Auferstandenen“.

Amen.

Köln 22.04.2022
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf. 343.

[2] vgl. Khema, Ayya (42014): Nicht so viel denken, mehr lieben. Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 11f.

[3] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf. 345.

[4] Vgl. Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf. 346.