21. Sonntag im Jahreskreis – Ich bin nicht gefragt!

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Ein „Absacker“-Evangelium

Schon wieder! Vor drei Sonntagen das Evangelium von der Brotvermehrung, kurz davor an den Sonntagen wie an den Werktagen das Gleichnis vom Sämann mit allen Auslegungen, die die Jünger erfragen. Es gibt Evangelien, die haben einen „Absacker“-Charakter: Der, der sie vorliest, sieht, wie die, die stehend oder sitzend zuhören, in sich zusammensacken. Schon wieder der Sämann, schon wieder die Brotvermehrung, und heute schon wieder „Cäsarea Philippi“ (der Absacker-Impuls für Theologen, da der Ort nur einmal bei Matthäus vorkommt) bzw. für alle anderen die Frage, die Jesus dort stellt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ bzw. das „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Ich sehe Sie vor mir, wie Sie stehend oder sitzend in sich absacken – vorausgesetzt natürlich, Sie kennen sich im Evangelium ein wenig aus.

Als Prediger tue ich mich wahrscheinlich ebenso schwer wie Sie als Lesende oder als Hörende. Und wissen Sie, warum? Ich bin nicht gefragt! Und Sie auch nicht! Jesus fragt die Jünger danach, für wen die Menschen den Menschensohn halten, und hört sich deren Antwort an: „Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten.“ Dann fragt er die Jünger (nicht nur den Petrus) noch einmal: „Ihr aber, für wen haltet Ihr mich?“ Und Petrus – und nur er – antwortet: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“

Nur mal bis dahin, für heute.

Petrus gibt die Antwort

Als Prediger entkommt man kaum der Versuchung, die Frage an die den Gottesdienst Besuchenden weiterzugeben. Später! Beim diesjährigen Lesen der Perikope, der Bibelstelle, stößt mir im Blick auf die gegenwärtigen Diskurse in der deutschen Kirche auf, dass die entscheidende Antwort nur von Petrus kommt, und dass kein anderer der gefragten Jünger etwas sagt, sei es etwas Betätigendes oder sei es etwas Kritisches, Anfragendes (da sei dann Gott vor, oder vielleicht doch nur der Petrus?)

„Für wen haltet Ihr mich, für wen hältst Du mich?“ Petrus gibt die Antwort, oder sein Nachfolger und die in den Diensten des Nachfolgers stehenden Apostelnachfolger (in Person der Bischöfe) samt deren Schreiberlinge, wenn es geht, natürlich ordinierte Schreiberlinge. Es brauchte beinahe fünf Jahrhunderte und vier Konzilen, bis schließlich im Konzil von Chalcedon 451 n.Chr. eine lehramtliche Festlegung daraufhin ausgesagt wurde, wer denn dieser Christus sei. Die Antwort hat ebenfalls einen Absacker-Impuls wegen der holzigen Sprache: „Ein und derselbe ich Christus, der einziggeborene Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt.“ [1]

Das Schweigen der Jünger

Zugegeben, ganz so theologisch abstrakt wie der Konzilstext aus dem 5. Jahrhundert ist die Antwort des Petrus nicht – aber so wirklich hilfreich für ein Leben inmitten der Gesellschaft, der Familie, dar Kommune usw. ist die Antwort des Petrus auch nicht: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Vielleicht ist das der Grund, warum die Jünger schweigen. Vielleicht ist es auch die Sprecherrolle des Petrus ein Grund ihres Schweigens – „Roma locuta, causa finita“: „Rom hat gesprochen, der Fall, die Frage ist geklärt.“ Oder – und zu dieser Variante tendiere ich – den Jüngern damals haben schlicht die Worte gefehlt, ähnlich wie Sie vielleicht Ihnen oder mir fehlen würde, käme während der Predigt im Gottesdienst der Prediger auf Sie oder mich zu und fragte Sie: „Sie aber, für wen halten Sie den Menschensohn?“ Oder vielleicht anders: „Wer ist Jesus für Dich?“ Gibt es da mehr als theologische Lehr- oder Leerformeln? Kann ich aus meiner Lebenswelt, aus den hellen und dunklen Seiten meines Lebens und Erlebens eine Antwort geben?

Ich bin nicht gefragt!

Aber: Ich bin nicht gefragt, gottseidank, könnte man da sagen. Aus dieser Haltung hoffe ich den postmodernen Menschen sich befreit zu sehen. Ich möchte mir nicht sagen lassen, wie ich Jesus zu denken und zu glauben habe. Wie mag es Ihnen gehen? „Zur Moderne gehört der Zugriff“, heißt es in einem Artikel, der mich sehr fasziniert. Ich sehe vor mir jemanden, der mir wie ein Tortenstück den Christus anreicht, der mir – man nennt es Katechese oder auch Studium – „aufgetischt“ wird den ich „zu verdauen“ habe. Nein, will ich nicht! Das ist keine spätpubertäre Verweigerung der Autorität gegenüber oder keine narzisstische Selbstbespiegelung. Zur Postmoderne gehört das Geschehen“, so geht das Zitat im Artikel weiter. Ich möchte die Blickrichtung ändern und von dem, was um mich herum oder in mir geschieht, Christus erkennen. Das ist dann auch ein Christus, der gestern, heute und in Ewigkeit ist – so steht es auf der Osterkerze, und in seinem „Sein“ will ich ihn gar nicht bezweifeln. Das ist aber dann der Christus, der sich gestern, heute und in Ewigkeit immer wieder neu und anders zeigen, erweisen kann. Das Gestern ist Geschichte, und was morgen sein wird, ist ein Geheimnis. Um Christus zu begegnen, muss ich das heute, muss ich die Gegenwart als Geschenk nehmen.

Absacken war gestern

Ich bin von Petrus nicht gefragt, ich bin vielleicht noch nie von jemandem gefragt worden – aber ich habe etwas zu sagen, kann eine Antwort geben, hoffentlich weniger als Frage, sondern als Antwort auf die Frage Jesu, die mir gilt, weil ich sein Jünger bin, weil ich in seiner Gefolgschaft bin: Für wen hältst du mich? Und ich finde es nicht mehr als fair, wenn ich Jesus die Frage zurückgeben: Und Du, für wen hältst Du mich? Wer bin ich für Dich?

Amen.

Köln, 23.08.2020
Harald Klein

[1] Lauster, Jörg (2014):  Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München, 124; vgl. Wohlgemuth, Josef (Hrsg.) (3. Aufl. 1998): Conciliorum oecumenicorum decreta. Bd. 1. Paderborn 1998, S. 86.