24. Sonntag im Jahreskreis – Verschwörungstheorie um Jesus

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Wo waren Sie an 9/11?

Sie kennen die berühmte Frage, die man gerne am oder um den 11. September stellt: Erinnern Sie den Tag, die Bilder, den Ort, an dem Sie waren, damals 2001? Im Fernsehen laufen die Bilder von den beiden Flugzeugen, die ins World Trade Center in New York, ja was, einschlagen? Oder hineinfliegen? Welches Wort ist richtig, um das Unbeschreibliche, das Unglaubliche zu beschreiben? Sie sehen wohl auch noch die Menschen in Panik, Sie sehen Menschen, die aus den Türmen springen, sehen die Türme einstürzen und sehen die gewaltigen Staubwolken, die sich durch die Straßen schieben – ähnlich dem Hochwasser vor wenigen Wochen im Ahrtal und an der Erft in NRW. Wo waren Sie damals? Sie wissen es noch, weil das Unbeschreibliche einen Anker braucht, um sich festzumachen. Orte, Menschen, bis hin zur Kleidung des Partners sind oft noch präsent.

» Wer das Leben in engen Räumen vorzieht, bekommt gewissermaßen Platzangst, und diese birgt ihre ganz eigenen Schrecken. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 60.

Und danach?

Ich erinnere kaum ein Ereignis, dass sich kollektiv so ins Bewusstsein der westlichen Welt eingebrannt hat wie dieser Terroranschlag. Aber gerade, weil es ein solches Ereignis war, erwuchsen schnell die verrücktesten Deutungen und Darstellungen, was denn da passiert sei. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt:

„Heute verbreiten die Anhängerinnen und Anhänger des ‚9/11 Truth movement‘, sogenannte ‚Truther‘, ihre Verschwörungstheorien und ‚alternativen Fakten‘ gerne im Netz. Einigkeit darüber, wer tatsächlich hinter den Anschlägen steckt, scheint es unter ‚Truthern‘ nicht zu geben. Doch Motive für eine solche Verschwörung existieren angeblich zur Genüge. Dass sich Osama Bin Laden und die Terrororganisation al-Kaida mehrfach zu den Terroranschlägen bekannt haben, spielt für sie keine Rolle.

Viele ‚Truther‘ glauben, dass Mitglieder der US-Regierung die Anschläge bewusst geschehen ließen. Andere gehen sogar noch weiter und behaupten, ein kleiner Personenkreis innerhalb der US-Führung habe die Anschläge selbst geplant und mithilfe Dritter durchgeführt. Warum? Um einen Vorwand zu schaffen, in Afghanistan und im Irak einzumarschieren. Und warum das? Wegen des Öls. In der Tat wird die US-Invasion des Iraks heute von vielen als Fehler betrachtet. Der Vorwand, Diktator Saddam Hussein entwickle Massenvernichtungswaffen, hat sich mittlerweile als Fehlinformation der US-Geheimdienste entpuppt. Und auch der Faktor Öl im Irak-Krieg wurde in den letzten Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. All das beschert Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretikern einen gewissen Zulauf.“[1]

» Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist,
sondern wie wir sind. «
Anais Nin

Drei Kennzeichen einer Verschwörungstheorie

Lassen Sie uns einen Augenblick bei der Struktur einer Verschwörungstheorie bleiben.

Verschwörungstheorien haben i.d.R. drei Kennzeichen: (1) Nichts geschieht durch Zufall, alles wurde geplant. Eine Gruppe von Verschwörern handelt im Geheimen. (2) Nichts ist so, wie es scheint. Man erkennt erst, was wirklich vor sich geht, wenn man die geheime Gruppe erkennt. Diese Gruppe hat alles geplant. Wenn Probleme auftauchen und Fragen gestellt werden, antworten Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen ähnlich. Sie sagen, dass ein geheimer Plan der Verschwörer dahintersteckt. (3) Alles ist miteinander verbunden. Institutionen und Personen arbeiten zusammen, von denen man das nie gedacht hätte. [2]

» Wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. «
Papst Franziskus (2020): Enzyklika "Fratelli tutti", Nr. 27.

Das Christentum – eine Verschwörungstheorie?

Ich weiß nicht, ob es eine Neugier ist, oder vielleicht auch ein Erschrecken – aber diese drei Kennzeichen einer Verschwörungstheorie vermag ich im heutigen Evangelium zu erkennen, und je weiter ich den Bogen der Evangelien und der sie verkündenden Kirche spanne, um so mehr meldet sich die Frage nach der Gültigkeit, der Wahrheit, der weltgestaltenden Relevanz des Christentums.

Fangen wir mit dem zweiten Kennzeichen an: Nichts ist so, wie es scheint! „Für wen halten mich die Menschen? – Ihr aber, für wen haltet Ihr mich?“ Die Frage Jesu und die Antwort des Petrus, das sogenannte Messiasbekenntnis, zeigen: Auf die „Wahrheit“ Jesu, auf die Frage, für wen man ihn hält oder halten kann, gibt es verschiedene Antwortmöglichkeiten, aber nur die Gruppe um ihn herum mit Petrus, ihrem Sprecher, behauptet von sich zu erkennen, was vor sich geht. Das „Du bist der Messias“ sagen nur die, die der „geheimen Gruppe“ angehören, gemeint ist die „wirkliche und wahre Kirche“.

Dazu kommt das erste Kennzeichen: Der geheime Plan, der hinter all dem steckt, der nicht offensichtlich ist, in den man eingeweiht, in den hinein man „getauft“ werden muss, zu dem man „berufen“ wird. Gott selbst hat seine Finger im Spiel, schon damals bei Jesus, und hinter verschlossenen (meist wohl vatikanischen oder erzbischöflichen) Türen geschieht all das, was diesen geheimen Plan – interessanterweise spricht man von „Erlösung“ und „Reich Gottes“ – scheinbar Realität werden lässt. Da gibt es prunkvolle, farbenfrohe und oft liturgische Präsentation seiner selbst in der Öffentlichkeit, da gibt es klare Urteile zur Welt, zur Politik, zur Sexualität – und daneben gibt es die zehnbändige „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner[3], der die präsentierten Fakten schlicht anders interpretiert. Es ist schon kennzeichnend, wenn Jesus im Evangelium zu Petrus sagt: „Tritt hinter mich, Du Satan! Denn Du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. Da sind sie, die beiden Gruppen, die einen, die wollen, was Gott will, und die anderen, die wissen was die Menschen wollen. Und natürlich wissen nur die, die zur „Gottesgruppe“ gehören (man könnte von den Jüngern oder von der Kirche sprechen), was Gott will. Und diese Gruppe bedient sich nun allem und aller, diesen vermeintlichen Willen Gottes umzusetzen.

Und damit sind wir beim dritten Kennzeichen: Alles ist mit allem verbunden. Spätestens Deschners Lektüre lässt verwundert entdecken oder auch fragen, wer da mit wem und auswelchem Grund, auf welches Ziel hin zusammengearbeitet hat. Die bekannten historischen Beispiele wären die Kreuzzüge, das Verbot und die Zerstörung des Templerordens, die Hexenverbrennungen. Modernere Beispiele könnten die Fragen nach den Finanzen des Vatikans, das Verhältnis von weltlichem und kirchlichem Recht oder die Reizthemen des sogenannten Synodalen Weges sein, die da wären: Umgang mit Macht und Gewaltenteilung in der Kirche, Priesterliche Existenz heute, Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche, Leben in gelingenden Beziehungen/Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft.

» Von mehreren hinreichenden möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt. «
William von Ockham (1288-1344)

Raus aus der Verschwörungstheorie

Es geht mir nicht darum, das Christentum als Verschwörungstheorie und die Mächtigen der Kirche als Verschwörungsgruppe darzustellen. Dennoch: manche Kennzeichen oder manches Verhalten, manches Vorgehen und manches Unterlassen haben schon etwas von solchen Theorien. Was hilft, sich anders darzustellen, anders wahrgenommen zu werden oder auch, diese Anteile zu entlarven, sind schlicht die Kennzeichen dessen, was eine „gute Theorie“ ausmacht.

Dazu gehört eine klare Begrifflichkeit, z.B. eine klare Auskunft, was denn „Erlösung“ meine. Dazu gehören präzise und konsistente formulierte Beziehungen zwischen den „Konstrukten“, z.B. was denn „Messias“ meine, was denn einen „Jünger“ ausmache und wie sie sich zueinander verhalten. Und seit William von Ockham (1288-1347) ist klar: je einfacher die Beziehungen unter den „Konstrukten“ sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit. Je komplexer, komplizierter und „verschwurbelter“ eine Theorie sich zeigt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für eine Unstimmigkeit bzw. für eine Verschwörungstheorie. Weiter gehört zu einer guten Theorie, dass sie das Risiko vor großen Vorhersagen nicht scheut, dass sie einen großen Gültigkeitsbereich abdeckt, dass sie überprüfbar ist und – ganz spannend in Sachen Theologie – dass sie leicht falsifizierbar d.h. widerlegbar ist. Alles, was sich als unumstößliche Wahrheit darstellt, steht damit unter einem Generalverdacht.

» Wir brauchen keine Magie, um unsere Welt zu verwandeln; wir tragen alle Kraft, die wir brauchen, bereits in uns: Wir haben die Kraft, uns Besseres vorzustellen. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 67.

„Für wen haltet ihr mich?“

Von daher kann ich Sie nur ermutigen: Trauen Sie sich zu einer eigenen Antwort auf die Frage Jesu hin. Sie sind von ihm gefragt, Sie geben ihm die Antwort, keinem anderen. Und wenn Ihre Antwort vielleicht – sogar wahrscheinlich – nicht mit der Antwort der Dogmatiken und Katechismen der letzten Jahrhunderte übereinstimmt, ist das nicht schlimm. Es ist Ihre Antwort auf die Frage dessen hin, von dem und bei dem Sie gefragt sind! Seien Sie klar in Ihrer Begrifflichkeit, benennen Sie, mit wem Sie diese Antwort teilen und wie Sie das machen, seien Sie sparsam in den Verwicklungen, in die Sie das alles führen kann, und seien Sie mutig in dem, was Sie angehen und aussagen wollen. Je größer der Geltungsbereich dessen ist, für die ihre Antwort gilt, um so besser. Schauen Sie, dass man Ihre Antwort an Ihren Haltungen und ihren Handlungen überprüfen kann. Und wenn jemand etwas verändern, wegnehmen oder hinzufügen will, prüfen Sie es – vielleicht liegt in der Falsifikation dessen, was Sie und wie Sie „es“ gesehen haben, ein größerer Blick auf die Wirklichkeit, ein Mehr an Freiheit und ein Wachstum an Leben, an Liebe und an Lebendigkeit.

Nochmal die Frage vom Anfang: Wo waren Sie an 9/11? Aber jetzt geht es um den 11.09.2021! Wo stehen Sie heute bei der Frage nach dem „Wofür haltet Ihr mich?“ Gehen Sie keinem auf den Leim! Und kleben Sie nicht fest an Theorien, die kein Mensch mehr braucht. Trauen Sie sich und Ihrer Theorie, aber trauen Sie bitte keinen Verschwörern, aus welchem Lager auch immer sie kommen.

Amen.

Köln 11.09.2021
Harald Klein

[1] Vgl. [online] https://www.bpb.de/lernen/projekte/wahre-welle/270411/verschwoerungstheorien-zu-9-11 [11.09.2021]

[2] Vgl. [online] https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/312781/verschwoerungstheorien [11.09.21]

[3] Vgl. [online] https://www.rowohlt.de/buch/reihe/kriminalgeschichte-des-christentums [11.09.21]