Vom rechten Weg abkommen?
Von Gott durch das Prophetenwort „angemacht“ oder „gedisst“ werden, so könnte man die ersten Worte der ersten Lesung deuten: „So spricht der Herr: ‚Ihr sagt: Der Weg des Herrn ist nicht richtig.‘ Hört doch, ihr vom Haus Israel: Mein Weg soll nicht richtig sein? Sind es nicht eure Wege, die nicht richtig sind?“
Meine ersten Gedanken bei diesen Worten gehen an die Streitfrage um die Masken und um andere scheinbar willkürliche Corona-Einschränkungen – welcher „Weg“ kann schon von sich behaupten, der richtige zu sein? Aber dann trifft mich der eine Satz an einer ganz empfindlichen Stelle. Da geht es um meinen „Weg“, und ob die Frage, ob mein Weg „richtig“ oder „falsch“ ist. Bei Corona geht es um Abwägen, um festgelegte Zahlen und Maßstäbe, nach deren Erreichen Maßnahmen greifen. Bei Ezechiel geht es aber um die Frage nach Schuld und Gerechtigkeit. Ich kenne beide Themen, und ich kenne hier wie da die Diskussion um richtige und falsche Wege. Und mir stellt sich die Frage, wer heute bei der Sicht auf den eigenen Weg oder bei der Sicht auf den Weg anderer aus welchen Gründen sich ein Recht herausnehmen darf zu sagen: „richtig“ oder „falsch“! Wer darf mir bzw. wem darf ich mit welchen Begründungen sagen, er/sie sei vom „rechten Weg abgekommen“ oder seine/ihre Wege seien „nicht richtig“?
Die Moderne und das Lebensbild des Pilgers
Das Bild vom Lebensweg ist so alt wie die Erscheinung der Religionen. Zutiefst jüdisch und christlich ist das Motiv der irdischen Pilgerfahrt auf das Leben mit Gott zu. Das war in dieser Zeit und bis in die Epoche der Moderne hinein ein erstes Indiz für den „richtigen“ Lebensweg: Es gibt ein klares Ziel, und es gibt festgeschriebene Wege, Regeln, Gesetze, Gebote, mittels derer der gläubige Mensch dieses Ziel erreicht. Sie erinnern die Werbung der Sparkassen: „Mein Haus, meine Familie, mein Boot usw.“? Ich erinnere die erwartete Reihenfolge eine Männerlebens in meiner ländlichen Heimat: Schule – Ausbildung – Beruf – Hausbau – Hochzeit – Kinder – und dann dem Sterben entgegengehen.
Es ist der Soziologe Zygmund Bauman (1926-2017), der das Leben der Menschen vor allem in den westlichen Gesellschaften ab dem Moment der Reformation bis in das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts, in der Zeit der Moderne, nicht religiös, sondern soziologisch als „Pilgerreise“[1] beschrieben hat.
Der ideale Ort für diese Lebensweise sei, so Bauman, die Wüste. Hier werde der Pilger nicht abgelenkt von der Vielzahl der Möglichkeiten der Städte. Und so war es ja auch in den ersten Jahren der sich verfassenden christlichen Religion: Eremiten lebten in der Wüste, Mönche in den Klöstern. Frauen bildeten in dieser Zeit hier wie dort eine Ausnahme.
Die Reformation brachte eine Veränderung. Christen, insbesondere reformatorischer Prägung, wurden zu innerweltlichenPilgern. Man konnte im bürgerlichen Alltagsleben auf Pilgerreise gehen, ohne die Heimat zu verlassen. Die Welt des alltäglichen Lebens wurde als Wüste gedeutet, die es zu bestehen galt.
Und noch einen Schritt weiter: In der Zeit der späten Moderne, etwa seit dem 20. Jahrhundert, verlor das Leben in seinen vielfältigen Formen an Beständigkeit, an Klarheit. Hinter der Tür, so Bauman, begann die Wüste des Alltags, der Welt, des Lebens, eine Welt, die sich der Verfügbarkeit entzog. „In einem solchen Land, das gewöhnlich moderne Gesellschaft genannt wird, bedeutet die Pilgerreise nicht mehr eine Wahl der Lebensform, noch weniger eine heroische oder heilige Wahl. Das Leben als Pilgerreise zu leben, entspricht nicht mehr der Art von ethischer Weisheit, die den Auserwählten und Rechtschaffenen offenbart (oder mehr von ihnen intuitiv erfasst) wird. Die Pilgerschaft ist das, was man notgedrungen tut, selbst wenn der Stoß sich wunderbarerweise als Zug re-inkarniert und aus der Unvermeidlichkeit ein Zweck gemacht wird. Man muss sein Leben als Pilgerreise leben, um nicht in einer Wüste verlorenzugehen – in einem Land ohne Bestimmung muss man dem Wandern einen Zweck unterlegen.“[2] M.a.W.: Die oben genannte Struktur auf dem Land bleibt bestehen, aber die Inhalte, mit denen die Struktur gefüllt wird, erscheinen in großer Vielfalt – schauen Sie sich nur die Villen auf den Dörfern an und den Wunsch unterscheidbar von den anderen, individuell sein Vorzeigehaus zu gestalten. Der Weg des Pilgers bleibt, die Ziele des Pilgers auch, aber sie nehmen – wortwörtlich – verschiedene Gestalten und Farben an.
Die Postmoderne – die Strukturen fallen
Der Übergang der Epoche der Moderne zur Postmoderne liegt in dem Moment, wo nicht nur die Ziele des Pilgers mehrdeutig werden, sondern wo auch die Struktur der Pilgerreise in Frage gestellt wird, wo es kein „eines nach dem anderen“ in gesellschaftlich getragener Verbindlichkeit mehr gibt. Nebenbei gesagt: Hier liegt m.E. auch ein Grund für die Krise in der katholischen Kirche!
Zwei weitere Bilder von Bauman gefallen mir. Er spricht von der Mitte, die zwischen den beiden Polen des „Anfangs“, wo alles nur Tyrannei der Möglichkeit ist, und des „Endes“, wo Gewissheit um den Preis der Freiheit erkauft wird.[3] Die Mitte ist gebrochen, weil von ihr aus eine Wahlmöglichkeit ergriffen und unendlich viele Wahlmöglichkeiten gelassen werden. Spätestens hier setzt die Frage an, welche Wahl, welcher Weg jetzt richtig ist? Wer darf mir das sagen? Wer darf mir raten – und aus welchem Motiv heraus?
Es macht das Leben in der Postmoderne so schillernd, dass es eben um die Frage geht, was jetzt der richtige Weg, die richtige Entscheidung sei. Sie ist, anders als gefühlt in der Moderne und im Pilgerbild, umkehrbar, veränderbar. Die Frage nach der Identität und der Persönlichkeit in der Moderne stellen hieß, beides zu messen am „Pilgerbild“ und am „Pilgerziel“. Wenn beides nicht mehr gilt, kann man in Sachen „Identität“ und „Persönlichkeit“ nur Momentaufnahmen machen. „Wer bist du?“ – jetzt? „Was macht dich aus?“ – jetzt? Und die Frage nach dem „richtigen“ oder „falschen“ Weg ist ebenfalls nur eine Momentaufnahme. Man kann Kontinuität erbeten oder anfragen, sie ist aber kein vorausgesetztes Kriterium für einen „richtigen“ der „falschen“ Weg, sie ist höchstens Entscheidung in der – dann gebrochenen – Mitte zwischen Anfang und Ende.
Vier Metaphern für den Menschen auf dem Weg
Bauman beschreibt in seinem Essay vier Metaphern, Bilder, die die Nachfolge des Pilgers und seiner Pilgerreise beschreiben. Sie bilden kein „entweder – oder“, sondern sind Züge, die mehr oder weniger ausgeprägt in jedem Menschen wirksam sind, der sich „postmodern“ bewegt.
Da ist zunächst der Flaneur, der Spaziergänger. Er bewegt sich als Fremder unter Fremden, seine Begegnungen sind Vergegnungen, d.h. Begegnungen ohne Auswirkungen. Ihm geht es ums Betrachten, ums Auswählen in einer Zeit der Muse. Bauman betont, dass das englische Wort Mall einst den Spazierweg, jetzt den Schlenderweg durch die Welt des Konsums in den vielen Shopping Malls und Arkaden bezeichne. Flaneure halten sich in ihrer Welt für Regisseure ihres Lebens, obwohl sie allesamt Objekte einer unbekannten Regie sind.[4] „Die ultimative Freiheit steht unter Bildschirmregie, wird in Gesellschaft von Oberflächen gelebt und heißt zapping[5].“ Was meint wohl „richtiger Weg“ für den Flaneur?
Der Vagabund, Baumans zweite Metapher, ist heimatlos – im Vergleich zu den anderen Metaphern – und herrenlos. In einem verwalteten und überwachten Raum hat der Vagabund keinen Ort und muss verschwinden. Geht der Flaneur lustgetrieben und damit vorhersehbar von Ziel zu Ziel, ist der Vagabund ziellos. „Man weiß nicht, wohin er sich als nächstes bewegen wird, weil er es selbst nicht weiß und es ihn auch nicht besonders kümmert.“[6] Er sucht „beständige Orte“ auf, die aber auch immer weniger werden. Die Chancen stehen gut, dass der Vagabund immer mehr Menschen seines Schlages treffen kann. Was meint wohl „richtiger Weg“ für den Vagabunden?
In der dritten Metapher spricht Bauman vom Touristen. Wird der Vagabund eher „gestoßen“, so wird der Tourist eher „gezogen“. Ästhetische Kriterien ziehen ihn in unterschiedliche Erfahrungen von Neuem und Unterschiedlichen. Problematisch wird es, wenn die touristischen Eskapaden sich so lange ausdehnen, dass unklar wird, was ihm Besuchsort und was ihm Zuhause ist. „Heimweh ist ein Traum von Zugehörigkeit – wenigstens einmal nicht nur an einem Ort, sondern auch von dort zu sein.“[7] Was meint wohl „richtiger Weg“ für den Touristen?
Schließlich die vierte Metapher: der Spieler. „Die Welt der Spieler ist eine Welt der Risiken, der Intuition, der Vorsorgemaßnahmen.“[8] Das Spiel hat Regeln, hat Anfang und Ende, gibt die Möglichkeit, nach Gewinnen oder Verlieren wieder „bei null“ anzufangen, kein vorheriges Spiel darf „Folgen“ haben. Wer sich weigert, den Konventionen zu gehorchen, rebelliert nicht gegen das Spiel er zieht nur einfach vor, nicht mitzuspielen und hört auf, Spieler zu sein.“[9] Was meint wohl „richtiger Weg“ für den Spieler?
Vom Lebensweg zu Teichen und Tümpeln
Eine der herausforderndsten Aufgaben im Versuch, sein Leben spirituell und ggf. unter christlicher Provenienz in postmoderner Zeit und mit postmodern lebenden Menschen zu führen, ist der Abschied von Lebensmodellen, die einen geraden, strukturierten Lebensweg vorsehen, vorgeben und daran Maß nehmen. An die Stelle eines Flusses des Lebens, der von der Quelle (Geburt) ins Meer (den Tod) sich durchsetzt, sind verschiedene Seen, Teiche und Tümpel getreten, die gar nicht miteinander verbunden sein müssen. Die Frage nach dem richtigen Weg verändert sich zur Frage nach dem „Bin ich hier richtig?“ – und den besten Dienst, den wir einander in dieser Hinsicht erweisen können, ist, die Frage auszuhalten, sie mit abzuwägen und Zeuge, wenn nicht so gar unterstützende Kraft zu einer Entscheidung am Ort der „gebrochenen Mitte“ zu werden. Und den Menschen, der sich aus der Tyrannei der Möglichkeit entschieden hat, von da aus (weiter) zu begleiten.
Das Begleiten ist das, was Sie dem Flaneur, dem Vagabunden, dem Touristen und dem Spieler anbieten können. Und dass Sie mit dem Flaneur, dem Vagabunden, dem Touristen und dem Spieler in Ihnen erbitten dürfen. Aber seien Sie vorsichtig: Dieses Angebot, diese Bitte ist keineswegs mehr Struktur auf einem vorgegebenen Pilgerweg, sondern ist bereits eine Entscheidung am Ort der gebrochenen Mitte, zwischen dem Anfang, wo noch alles möglich ist, und dem Ende, wo die Gewissheit der Gemeinschaft, der Begleitung um den Preis der Freiheit erkauft wird. Sie dürfen nicht damit rechnen, aber Sie können darauf hoffen.
Amen.
Köln 27.09.2020
Harald Klein
[1] Vgl. Bauman, Zygmunt (2007): Zerbrochene Leben, zerstörte Identitäten, in: ders.: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg, 119-169.
[2] a.a.O., 140.
[3] vgl. a.a.O., 123.
[4] Vgl. a.a.O. 152
[5] a.a.O., 153
[6] a.a.O., 154.
[7] a.a.O., 159.
[8] a.a.O., 160.
[9] ebd.