Haben oder Sein
Die Gesellschaftskritik des deutsch-amerikanischen Sozialpsychologen Erich Fromm (1900-1980) wurde durch zwei Bücher aus dem Jahr 1956 besonders bekannt. Das eine ist die „Kunst des Liebens“ mit der These, dass ein Mensch entweder liebt oder nicht, und dass diese Liebe zu allen Menschen sich am ehesten zeige in der Liebe zu dem einen Menschen. Das zweite Buch trägt im Deutschen den Titel „Haben oder Sein“, im Original lautet der Titel „To have or to be?“ – und hier wird mehr als im Deutschen deutlich, dass es eine Alternative im Leben gibt: Leben aus dem, was ich habe, oder Leben aus dem, was ich bin.
Um es gleich zu sagen – ähnlich wie beim reichen Jüngling: wenn ich nichtshabe, kann ich nur schlecht sein. Es geht zumindest nicht primär um das, was ich aufzählen kann und was zu meinem Besitz gehört im Gegensatz zu dem, wie ich bin oder wer ich für mich, für einen anderen, vor Gott bin. Es geht darum, in welcher Beziehung ich stehe, sowohl zu dem, was ich habe, als auch zu dem, was ich bin.
Es sind die Bewertungen, die aus dem, was ich habe, und aus dem, was ich bin, etwas „Gutes“ oder etwas „Schlechtes“ machen. Ryan Holiday und Stephen Hanselman schreiben im Blick auf die antike Philosophie der Stoa: „Denke daran: Ereignisse sind neutral. Erst unsere Meinung über sie sagt etwas darüber aus, ob sie gut oder schlecht sind (und ob sie es wert sind, gegen oder für sie zu kämpfen).“[1]
Wenn Glaube zur Moral mutiert
Etwas zu besitzen, sich etwas zu gönnen, Momente und Erleben von Genuss – all das wird im Zusammenhang mit Religion schnell und leicht verteufelt. Die alten Beichtspiegel können ein Lied davon singen, und die Gewissensbisse ganzer Generationen genauso. Glaube mutiert zu Moral, wenn er in Geboten und Verboten spricht. Er ist nur echt, wenn er sich in Zusagen, Ermöglichungen und heilsamen Botschaften ausdrückt.
Das merkt man am heutigen Evangelium. Der Erste soll der Sklave, der Diener aller sein. Ich bin mir sicher, dass Sie diesen Spruch allemal kennen oder schon gehört haben. Sofort merken Sie, dass es hier um Moral, nicht um Glauben geht, oder? Das „Ich muss teilen“ wird von Kindheit an geübt – am besten so, dass die Tochter die Portionen einteilt und der Sohn sich zuerst nehmen darf; seien Sie gewiss: die Portionen sind annähernd gleich groß. Das „ich muss brav sein“ und „Ich muss freundlich sein“ lässt Wut und Ablehnung kaum zu, es geht nach innen. Und immer schön dienen, bei Jungs und Männern vor allem: Und immer schön dienern.
Zuerst Dienende haben…
Diesen Anspruch auf Jesus oder aufs heutige Evangelium zurückzuführen geht nicht! Der Evangelist Markus hat immer kleine Überraschungen versteckt. Letzten Sonntag war es der freundschaftliche Blick auf den reichen Jüngling und die Umarmung, die dann das herausfordernde Wort vom „Verkauf Deinen Besitz und gib den Erlös den Armen“ folgen ließen – ich sehe Jesus dabei schmunzeln. Und heute – wir sind im Evangelium im gleichen Kapitel – heißt es zuerst: „Wer bei Euch groß sein will, er soll Euer Diener sein“ (Mk 10,43). Hören Sie den Unterschied? Nicht „Sei Du der Diener aller“, sondern „Lass Du es geschehen, dass andere Dir dienen.“
Das wäre die erste spirituelle Aufgabe dieses Sonntags, zu schauen, wer in meinem Umfeld meinem Leben wirklich dient; oder wo ich mir und meinem Leben dienlich bin. Ich will das auf Christus hin verlängern: Wie er, wo er, in wem und in was er mir und meinem Leben dient.
Freuen Sie sich an dem, was Sie erkennen, trauern Sie um das, was spirituell vertrocknet, verabschieden Sie sich von dem, was bzw. von denen die Sie am Leben hindern. Zuerst steht die Ausschau nach dem, wer oder was meinem Leben dient!
… dann Dienende sein
Und dann – in einer Art Antwort – wach sein dafür, wem ich auf welche Weise dienend begegnen kann. Letztlich sind es die gleichen Felder wie oben, nur dass aus dem „Subjekt“ ein „Dativ“ wird: Das wäre die zweite spirituelle Aufgabe dieses Sonntags, zu schauen, wem in meinem Umfeld ich vermutlich wirklich diene; oder wo ich ihm/ihr und seinem/ihrem Leben dienlich bin. Ich will auch das auf Christus hin verlängern: Wie kann ich auf sein Wort, auf sein Beispiel hin dienlich sein?
und immer schwerer
von der Last vielfacher Begegnung,
immer schwerer von der Last deiner Liebe;
unser Herz,
gebildet von dir,
bevölkert von unseren Schwestern und Brüdern,
den Menschen. «
Eine Checkliste des Dienens
Es kann hilfreich sein, solche geistlichen, spirituellen Fragen mit einer Checkliste anzugehen, um sich nicht in Details zu verlieren. Der Westerwälder Psychologe Hilarion Petzold (*1944) beschreibt fünf Säulen, die die Identität eines Menschen umschreiben; für ein Selbstcoaching spricht die Blog-Autorin Nicole Alps vom Lebenshaus, das auf fünf Säulen ruht.[2] Diese fünf Säulen sind Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit, soziales Netz, Körper und Gesundheit, innere Haltung.
Die dritte spirituelle Aufgabe dieses Sonntags könnte sein, das „bei Euch“ des Evangeliums ernst zu nehmen. Die Checkliste kann helfen, auf der einen Seite dem/der anderen zu sagen, wie sehr er/sie mir in den fünf Säulen meines Lebenshauses, meiner Identität dienlich, hilfreich zur Seite steht; und sie kann auf der anderen Seite helfen zu fragen, sich zu erkundigen, ob und wie ich Dir der Stabilität Deines Lebenshauses, Deiner Identität dienlich sein kann.
Um noch einmal auf Erich Fromm zurückzukommen: Ich glaube, in dieser Weise erfüllt sich sehr gut die „Kunst des Liebens“. Mehr noch: Ich sehe und spüre, wer ich bin, weil ich jemanden habe, der oder die mich – im besten Sinne des Wortes – sein lässt. Aus dem „Haben oder Sein“ wird ein „Haben und Sein“, vielleicht sogar ein „Sein, weil ich (Dich) habe,“
Amen.
Köln 14.10.2021
Harald Klein
[1] Holiday, Ryan / Hanselman, Stephen (2021): Der tägliche Stoiker, 10. Aufl., München, 337.
[2] Vgl. [online] https://zeitzuleben.de/5-saeulen-der-stabilitaet/ [14.1.2021]