„Die feinen Unterschiede“
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) veröffentlichte 1979 sein Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“, das den Untertitel „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ trägt. Einer der wichtige Begriffe dieses Werkes ist der Begriff des „Habitus“: die soziale Position eines Menschen, die sich von dessen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital ableitet, drückt sich aus in einer Lebensform, in einer Lebensweise, die eben nicht angeboren oder individuell gewählt, sondern weitergegeben und übertragen ist.
Ich entdecke eine Art „feiner Unterschiede“ heute im Evangelium, und ich entdecke, dass die Beziehung zu Gott den Menschen in einen „Habitus“ zu bringen vermag, der sich je nach Art und Weise der Beziehung zu Gott ganz unterschiedlich ausdrückt, in Lebensfreude und Lebensmut, oder auch in Angst und Verzweiflung.
„Gott gibt es!“
Im Gottesdienst haben Sie vielleicht das Evangelium von den Talenten gehört, von den Dienern, die unterschiedlich viel vom Vermögen ihres Herrn bekamen, und die auf unterschiedliche Weise mit diesem anvertrauten Vermögen wirtschafteten – bis dahin, dass ein Diener das anvertraute Vermögen vergrub und wartete, bis er seinem Herrn zurückgeben könne, lebt er doch in Angst vor dem Herrn.
Wenn Sie dieses Evangelium im Ohr haben, hören Sie das „Gott gibt es!“ mit der Betonung auf dem ersten Wort: Das, was wir haben, selbst das, was wir sind, ist eine Gabe Gottes, im Gleichnis eine Leih-Gabe Gottes, die ich ihm irgendwann zurückgebe. „Gott gibt es!“ – er ist der Geber aller Gaben, der mich damit wirtschaften lässt. Ich muss schon sehr im Glauben zu Hause sein, um diese theologische und zugleich anthropologische Bestimmung gelten und wirken zu lassen.
Sie können aber auch das zweite Wort betonen: „Gott gibt es!“ War vorher Gott ein „Gott im Nominativ“ („Wer gibt? – „Gott!“), so ist Gott jetzt ein „Gott im Akkusativ“ („Wen gibt es?“ – „Gott!“). Diese Betonung, diese Fragestellung kann beim Evangelium ansetzen: „Hat Gott mir sein Vermögen, ja sogar sich selbst anvertraut?“ Diese Fragestellung geht über diese eine Perikope, das eine Gleichnis weit hinaus: Gibt es diesen Gott überhaupt, von dem andere sagen, er habe uns ins Leben gerufen, uns beschenkt, uns mit Gaben ausgestattet usw.
Vom Habitus eines Christen
Da kann der französische Soziologe Pierre Bourdieu mir einiges mit auf den Weg geben. Wie sieht mein „Habitus“ aus, wenn ich annehme, dass es Gott (den „Gott im Akkusativ“) gibt, als einen Gott, der wirklich mein Gott ist und er mich als sein Geschöpf, als sein geliebtes Gegenüber will? Hat das Auswirkungen auf meine Weise des Lebens, darauf, wie ich mit mir selbst, mit anderen, auch mit ihm, meinem Gott umgehe? Und wie sieht mein „Habitus“ aus, wenn ich annehme, dass Gott (der „Gott im Nominativ“) der Geber aller Gaben ist, dass eben Gott es gibt? Wie steht es dann um mein ökonomisches, mein kulturelles, mein soziales Kapital? Das Gleichnis Jesu stellt es als das „den Dienern anvertraute Vermögen ihres Herrn“ dar – Dienerinnen, denen der Herr sein Vermögen anvertraute, scheint es im der Zeit des Gleichnisses noch nicht gegeben zu haben. Wie schmeckt Ihnen das, welchen Geschmack hat das für Sie, dass das, was Sie haben, besitzen, das Ihnen von Gott Anvertraute ist, und dass die, mit denen Sie leben, die Ihnen vom Herrn Anvertraute sind. Vielleicht ist das eine der schönste Geschenke Gottes, uns einander anzuvertrauen und dann wirkliche Gewinne im Leben zu generieren, besser noch: miteinander das Leben zu gewinnen. Vielleicht ist das Empfangen aus den Händen dessen, den es gibt, die Voraussetzung dafür, zum verheißenen Leben in Fülle zu gelangen – nicht indem ich es schaffe oder es erschaffe, sondern indem ich es mit den und dem mir Anvertrauten zu finden suche. Denen, die das versuchen, sagt der Herr: „Kommt, nehmt teil am Freudenfest des Herrn.“
So könnte der „Habitus“ eines Christen umrissen sein: Annehmen, dass es Gott gibt, und annehmen, dass Gott esgibt; und das, was er mir gegeben hat und immer neu gibt, als von ihm mir Anvertrautes nehmen, um damit und darin ein Freudenfest zu finden, an anderer Stelle heißt es „Leben in Fülle“. Dazu dient alles Kapital, nach Bourdieu das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital.
„… weil ich Angst hatte“
Bleibt der Blick auf den dritten Diener, der – entsprechend seiner Fähigkeiten – den geringsten Anteil am Vermögen seines Herrn bekommen hat. Im Habitus-Bild ist er der schwächste: er hat das geringste ökonomische Kapital, über sein kulturelles Kapital kann man nur spekulieren, und die Tatsache des Versteckens und Vergrabens des Geldes zeigt, das ihm ein soziales Kapital abgeht; Freunde, mit denen er sich beraten kann, sind keine da. In seiner Angst, die er seinem Herrn gesteht, kann er einem Leid tun! Diese Angst bestimmt sein Leben, ist Vorzeichen seines Habitus‘. Im Gleichnis ist die Angst vor dem Herrn berechtigt. „Du hast gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe“, entgegnet der Herr dem verängstigten Diener. Und er verbannte ihn in die äußerste Finsternis.
Das ist die noch ausstehende dritte Lesart des „Gott gibt es!“ Es genügt nicht, zu behaupten, dass Gott es ist, der alles gibt, dass es diesen „Gott im Nominativ“ gibt: „Wer gibt alles?“ – „Gott!“. Es genügt auch nicht, nach Gott zu fragen und seine Existenz zu behaupten, diesen „Gott im Akkusativ“: „Gibt es Gott?“ – „Es gibt Gott!“. Die beiden Sätze zusammengenommen sind hinreichend Grund, in tiefe Angst zu verfallen, wie der dritte Diener zeigt. Angst, vor Gott nicht zu genügen; Angst, vor den anderen, den Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen, nicht zu genügen; Angst, vor mir selbst nicht zu genügen; Angst, nicht genug zu haben und vorweisen zu können, in den Begriffen Bourdieus: nicht genügend ausgestattet zu sein mit ökonomischem, kulturellem und sozialen Kapital. Angst auch davor, das mir Anvertraute irgendwann wieder zurückgeben zu müssen, alles zu verlieren. Da steht die äußerste Finsternis gar nicht erst am Ende, da ist sie gestaltende Kraft der Gegenwart meines Lebens.
Aus der Nummer komme ich nur raus im Vertrauen auf den Gott, den Jesus Christus mir kündet und dann den erst glaubt, zu dem er selbst betet. Es ist eben kein unbestimmter Gott, von dem ich sage: „Gott gibt es!“ oder auch „Gottgibt es!“ Es ist der Gott, den Jesus verkündet und der sich in Jesus Christus zeigt. Und Hand aufs Herz: Das ist kein Gott, der erntet, wo er nicht gesät hat, oder der sammelt, wo er wo er nicht ausgestreut hat, der einen vermeintlich nichtsnutzigen Diener in die äußerste Finsternis wirft. Einen Menschen in dieser Angst lassen oder sie in ihm zu wecken hat seit kurzem einen neuen Namen: Man spricht von geistlichem Missbrauch!
Und so gehört zum Habitus des Christen neben der Annahme, dass es Gott gibt und dass Gott es ist, der gibt, das Wissen um diesen Gott, das Jesus Christus mir, uns gegeben hat und in dem er selbst gelebt und gewirkt hat. Und jetzt der geklaute Buchtitel von Bourdieu – der feine Unterschied: Der Götter, die ich mir ausmale und die mich auch ängstigen können, gibt es viele; den Gott Jesu Christi kenne ich nur über Jesus Christus, und da ist kein Platz für Angst.
Amen.
Köln, 15.11.2020
Harald Klein