29. Sonntag im Jahreskreis – Den Rücken stärken

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Außergewöhnliche Bilder

Seit zwei Wochen bin ich auf den Spuren von Hermann Hesse unterwegs erst im Schweizer Tessin, in Montagnola, einem kleinen Dörfchen in der Gemeinde Collina d’Oro, was übersetzt „Goldhügel“ heißt – und Sie können diesen Namen sowohl an der Schönheit der Landschaft als auch an der Größe der Häuser und der Autos überprüfen. Hier lebte Hermann Hesse seit 1919 erst in vier nicht heizbaren Zimmern der Casa Camuzzi, eines architektonisch aberwitzigen Palastes in der Ortsmitte, später zog er mit seiner dritten Ehefrau Ninon gleich nach der Heirat 1931 in die Casa Rossa, ein Haus, das er selbst entworfen hatte und das ihm ein befreundeter Architekt baute – Hesse behielt hier lebenslang Wohnrecht. Beide Wohnungen sind heute privatisiert, vermietet, verkauft. Das Hesse-Museum in Montagnola ist im Torre di Casa Camuuzzi untergebracht, im angebauten Turm der Casa, vom Garten kann man Hesses ursprünglichen Balkon sehen.

Hesse kommt weder im Evangelium noch in der Lesung vor – das Evangelium erzählt von einer armen Witwe, die ihr Recht bei Richter einklagt. Die Lesung bringt eines der eindrücklichsten und außergewöhnlichsten Bilder, die ich aus der Bibel kenne – und gemäß der hermeneutischen Gesetze des Verstehens fällt es mir nicht schwer, diese Bilder mit denen zusammenzubringen, die sich über die Begegnungen dieser Tage mit Hermann Hesse in meinem Kopf festgesetzt haben. Da knüpft eines an das andere an.

Äußere Kämpfe – innere Kämpfe

Die außergewöhnlichen Bilder der Lesung: Im Exodus, im Wüstenzug kommt es zum Kampf zwischen den Israeliten und den Amalekitern. Die einen stehen unter der geistlichen Führung des Mose und unter der kriegerischen Führung sein Bruders Josua, die anderen kämpfen eben unter ihrem König Amalek. Das ist das erste Auffällige – es fehlt den Amalekitern der Geist im Kampf, es gibt das immanente Ringen, aber nicht das transzendente Wofür oder Wodurch oder Woraufhin, zumindest wird davon nichts berichtet.

Josua sorgt für die Taktik, Mose sorgt für die Kraft zum Gewinnen. Mit seinem Gottesstab steht er auf dem Gipfel. Solange er den Stab mit seinen Händen erhebt, gewinnt Israel; sobald er die Hände sinken lässt, gewinnt Amalek.[1]

Und dann geschieht es. Mose ermüdet, ihm werden die Hände schwer. Und jetzt wird klar, was der Dienst Aarons und Hurs ist, die mit Mose auf den Hügel gestiegen sind. Heute würde man von „Support“ reden, es geht um Unterstützung! Sie holen einen Steinbrocken, schieben ihn hinter Mose, damit er sich setzen kann, und stützen seine Arme, „sodass die Hände erhoben blieben, bis die Sonne unterging“ (Ex 17,12). Und der letzte Satz der Lesung heißt dann: „So schwächte Josua Amalek und sein Heer mit scharfem Schwert“ (Ex 17,13). Josua gebührt der Ruhm, nicht Mose, erst recht nicht Aaron und Hur!  Lassen wir es großherzig mal so stehen.

„Laut-Malerei“: Die Schönheit der Sprache

In den vergangenen 14 Tagen komme ich mir manchmal wie betrunken vor von der Schönheit der Sprache Hermann Hesses. Dieser Schönheit der Sprache können Sie aber auch mit den Bildern der Lesung auf die Spur kommen.

Was steckt da im Wort drin, wenn Aaron und Hur Mose unterstützen? Wenn sie dem Mose die Möglichkeit geben, auszuruhen? Wenn sie ihn Platz nehmen lassen? Wenn sie ihm unter die Arme greifen? Wenn sie ihm den Rückenstärken?

Das ist der erste hermeneutische Anknüpfungspunkt an Hermann Hesse. Diese Worte sind keine Metaphern, aber es liegt so viel Bildinhalt und Bildanteil in ihnen, dass man sie zeichnen könnte. Dieses Bild verdeutlicht dann, um was es geht – da hilft nur Verweilen beim Wort, und nicht einfach drüber hinweglesen.

Jenseits der Lesung und des Evangeliums kommen wir andere Worte in den Sinn. Sich die Zeit vertreiben, sie gar totschlagen – was sagt denn so ein Wort aus? Leiden, weil ich Langeweile habe? Kann das nicht auch eine lange Weile sein, in der ich mich mit mir beschäftigen kann? Dann wird es ein Gewinn. Worte wie jemanden festnageln oder aufs Kreuz legen schmerzen, wenn man sich auf sie einlässt; hingegen tut für jemanden durchs Feuer gehen wohl, das kann nur an dem kleinen Wörtchen „für“ liegen.

Das wäre eine kleine spirituelle Aufgabe für den heutigen Sonntag – den Lautmalereien der oben genannten Worten des Unterstützens nachzugehen und sich davon überraschen zu lassen, welche Wahrheiten hinter den Worten, welche Aussagen eine Ebene unter dem Dahergesagten und welche Namen und Verhaltensweisen im Prozess des Nachspürens Ihnen kommen.

Selbstfürsorge: Hesse und die Witwe

Die Lesung geht davon aus, dass es die Aufgabe von Aaron und Hur war, Mose zu unterstützen. Das ist wieder so ein Dahergesagtes. Unterstützung heißt entweder: „Ich unterstütze Dich/Euch“ oder „Du/Ihr unterstützt mich“. Hesse zeigt mir ein Drittes: Seit ich ihn kenne, und das sind jetzt 45Jahre, ist er zeitlebens der, der mühsam, unter Schmerzen und mit vielen Wandlungen sich selbst unterstützt hat. Sein Ringen mit den Eltern, besonders dem Vater, sein Abbruch der Schulen und der Lehren, seine unglaubliche Weise, all sein Schicksal in die Figuren seiner Romane, mehr noch seiner Erzählungen zu legen, der Prozess des Schreibens, später – da war er schon 40 – auch des Malens. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Hesse über nichts anderes schreiben kann als eben über Hesse. Und genau darin unterstützt er sich selbst. Er ruht aus, besinnt sich beim Wandern, beim Rückzug aus der Familie, erst zeitweise, dann durch zwei Scheidungen, ringend mit der Frage, ob der Stand der Ehe und sein/das Künstlertum überhaupt vereinbar seien (Hesse-Kenner erinnern sich an seine Erzählung „Roßhalde“ von 1912/13). Er nimmt Platz, man könnte sagen: er findet seinen Platz im Tessin und in Montagnola, das er von früheren Wanderungen kannte, erst (von 1919-1931) in der Casa Camuzzi, dann zusammen mit seiner dritten Frau Ninon (von 1931 bis zu seinem Tod 1962) in der Casa Rossa am Ortsrand von Montagnola. Im Nachlass sind 35000 Briefe vorhanden, von denen man ausgehen darf, dass er sie alle beantwortet hat. Hesse hat in aller Zurückgezogenheit („Bitte keine Besuche“ stand am Eingangstor zur Casa Rossa) Tausenden von Menschen unter die Arme gegriffen und den Rücken gestärkt, seien es Migranten, seien es Studierende oder anderweitig Suchende. Das gelang bis ins Alter hinein nur durch Selbstdisziplin, Entschlossenheit und Eigensinn, um diesen für Hesse so charakteristischen Begriff zu nennen, das gelang nur aufgrund einer guten Selbstfürsorge.

Und genau hier sehe ich den Zusammenhang mit der Witwe im Evangelium vor, die immer wieder zum gottlosen Richter kam, um ihr Recht einzuklagen. Da ist kein Mensch, der sie unterstützt, ihr unter die Arme greift, ihr den Rücken stärkt. Das macht sie mit sich allein aus. Und genau dieses immer wieder ist die Frucht der Selbstfürsorge. Sie tritt ein für ihr Recht!

Es geht dabeiüberhaupt nicht um ein ein- für allemal! Es geht darum, wahrzunehmen und für wahr zu halten, was jetzt gerade ist. Und dann mit Aaron und Hur, mit der Witwe und mit Hesse zuerst mir selbst alle Unterstützung zu geben und zu suchen, die ich brauche; mir selbst in aller Ruhe und Wachheit anzuschauen, was ist und wohin ich gehen will; selbständig und mit Selbststand meinen Platz für und im Hier und Jetzt einzunehmen; herausfinden, wer mir unter die Arme greifen und mir den Rücken stärken auf an dem Platz, an dem ich bin.

Und dann, erst dann meine Unterstützung anderen anbieten! Das ist der Grund, warum Ihnen im Flugzeug immer gesagt wird, dass Sie sich zuerst selbst im Falle eines Druckabfalls die Sauerstoffmasken überziehen und dann anderen, auch Ihren Kindern helfen sollen.

Um anderen den Rücken stärken zu können, brauchen Sie erst mal Luft zum Atmen – auch so eine Laut-Malerei. Die zweite spirituelle Übung an diesem Sonntag: Malen Sie sich doch mal aus, in Worten, in Bildern, wie es um Ihre Selbstfürsorge steht – und was Sie von Mose und der Witwe, was Sie von Hesse sich dazu sagen lassen können.

Amen.

Montagnola/Gaienhofen, 13.10.2022
Harald Klein

[1] Tolkien-Fans werden sicher das Bild des weisen Gandalf in der Höhle der Orks vor Augen haben. Solange er seinen Stab gegen das Untier auf der Hängebrücke über dem feurigen Abgrund hält, hat es keine Chance an ihm vorbeizukommen. Das „Du kommst hier nicht vorbei!“ gehört zu den bekannten Zitaten aus dem ersten Teil des Herrn der Ringe.