10. Sonntag im Jahreskreis – „Du aber: heile!“

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„Wie kann der nur…?!“

Eine der typischen Redewendungen der Pharisäer, der religiös gebildeten Elite Israels, aber auch der Sadduzäer, des kämpferischen Tempeladels, und der Schriftgelehrten (die Bezeichnung spricht für sich) in ihrem Verhältnis zu Jesus lautet sinngemäß: „Wie kann der nur?!“ Nicht, dass hier nach einem Verstehen gefragt wird bzw. nach einem Verstehen gefragt werde! Es ist im Gegenteil ein Ausruf des Unverständnisses und der Verärgerung, weil Jesus sich im Mahl mit Sündern und Zöllnern mit den Outlaws, den aus dem jüdischen Gesetz Gefallenen abgibt und eins macht. Und ehrlich gesagt werden seine Jünger auch nicht anders gedacht haben, als Jesus den Zöllner Matthäus, der bei den römischen Besatzern in Lohn und Brot stand, in ihre Reihen aufgenommen hat: „Wie kann der nur?!“

» Grundlage der Individualisierung des Glaubens wird [...] ein neuer Grundsatz, der sich so formulieren lässt: Es gibt in religiösen Fragen keine Wahrheit außer der persönlichen, die man sich selbst erarbeitet hat. «
Beck, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt/Main, 119.

„Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Jesus schießt in seiner Antwort an die Pharisäer von hinten durch die Brust ins Auge. „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes…“, beginnt er seine Antwort. Und sie alle, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrte und Jesu Jünger wissennatürlich, dass sie mit den „Gesunden“ gemeint sind!

Jesus fährt fort mit: „ …sondern die Kranken.“ Und wieder wissen sie alle, die Pharisäer, die Sadduzäer, die Schriftgelehrten und Jesu Jünger, dass sie jetzt nicht gemeint sind. Na gut, mag er doch die Drecksarbeit übernehmen, mag er sich doch mit Zöllnern, den Sündern, den Outlaws abgeben. Wir nicht!

Aber jetzt schießt Jesus von hinten durch die Brust ins Auge: „Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ In dieser Situation heißt das mit anderen Worten: Wenn Ihr meint, Ihr seid die Gerechten, dann habe ich mit Euch nichts am Hut, nichts zu tun. Aber wenn ihr geht (in Zeiten der Kirchenaustritte ein spannendes Wort) und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer (ebenso spannend!), wenn Ihr Euch in Eurem Sündersein ernst nimmt, dann habe ich mit Euch viel am Hut, dann habe ich gern mit Euch zu tun! Für euch bin ich da!

» Um es so zu sagen: Was Jesus vor sich hat, ist immer wieder, dass Menschen die eigene Schönheit oder die eigene Größe ihres Daseins gar nicht zu leben wagen. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 172.

„Heile Du“ – Gottes Geist in mir wirken lassen

Jesu Schuss von hinten durch die Brust ins Auge hat nicht das Ziel, denen, die mit ihm gehen, in den Stand der Sünder einzuschließen und sie in diesem Stand zu lassen – auch wenn man es in manch alten Verkündigungsmustern immer noch so hören kann. Das Gegenteil ist der Fall! In der Pfingstsequenz, die wir von zwei Wochen vielleicht gesungen haben, wird der Heilige Geist gebeten: „Was befleckt ist, wasche rein, / Dürrem gieße Leben ein, / heile Du, wo Krankheit quält.“

Es ist eine theologische (an die Logik der Erkenntnislehre angelehnte) Milchmädchenrechnung, dass es (als Prämisse) eine Gabe und Fähigkeit des Geistes Gottes ist, das und dort zu heilen, wo Krankheit quält; dass es nach Pfingsten (als Annahme) gelten darf, dass wir den Heiligen Geist empfangen haben; und dass von daher (als Schlussfolgerung) gilt: das „Heile du, wo Krankheit quält“ gilt mir, gilt Ihnen, immer dann, wenn wir Situationen des Unheils erleben oder in sie verstrickt sind.

» Wir sollten aufhören zu glänzen
und anfangen zu leuchten. «
Buttgereit, Michael, Positionierungsdesigner, Gute Botschafter GmbH [online] https://diestillerevolution.de [19.01.2022]

Vier Verstrickungen in Unheil

Sie können das Evangelium – und Sie können Ihr Erleben und Leben – in vierfacher Hinsicht als „im Unheil“ erleben und deuten. Es geht dabei nicht um „Zöllner“ und „Sünder“. Anderes ist im Blick. Ich schreibe es aus einer „Ich“-Perspektive, lesen Sie es aus Ihrem „Ich“ heraus.

Da ist zuallererst die Frage nach meinem Verhalten zu mir selbst, auf mich selbst hin, gemeint ist mein eigenes Selbstbild. „Wie konnte ich nur…“ lautet die Frage, die nicht andere, sondern die ich an mich selbst stelle. Das „Heile Du“ gebe ich mir selbst als Auftrag, es erwächst aus mir selbst als Bitte und Hoffnung an mich selbst. Der mir von Gott gegebene Geist möge auf mich selbst ein- und in mir selbst für mich wirken.

Da ist als zweites die Frage nach meinem Verhalten einem oder einer anderen gegenüber, gemeint ist mein Fremdbild von anderen, meine Einstellung ihnen gegenüber. „Wie können die nur…“ lautet die Frage, die ich oft genug den Fremden gar nicht stelle und mich stattdessen einfach abwende. Aus den Augen, aus dem Sinn! Das „Heile Du…“ sucht Begegnung, fragt, will Fremdes und Fremde verstehen

Da ist als drittes die Frage, wie sich „die Welt“ mir gegenüber verhält. Unheil, Schmerz ist verbunden mit den Zuschreibungen, die mir gelten, und beinahe tragisch ist es, den mich angreifenden Zuschreibungen ein solches Gewicht einzuräumen, dass die mich tröstenden und liebevollen Zuschreibungen kaum noch ins Gewicht fallen. Das „Heile Du“ nimmt zum einen die Form des Aushaltens dunkler Zuschreibungen an, aber hoffentlich auch die Bitte um Hinhören auf die heilen Zuschreibungen an, die ich getrost glauben darf, stammen sie doch von Menschen, die es gut mit mir und für mich meinen.

Und schließlich ist als viertes die Kontaktlosigkeit, der Kontaktabbruch, vielleicht auch das Desinteresse, dann, wenn es aus einer Bewegung des Abwendens voneinander kommt. Diese Bewegung kann (im Guten) eine Frucht des „Heile Du“ sein, den einen nach links und den oder die andere nach rechts gehen zu lassen, wie es zwischen Abraham und Lot in Gen 13,6-9[1] geschildert wird, als das Land knapp zu werden droht. Das Heilsame liegt in einer Unterscheidung (die aber keine wirkliche Trennung beinhaltet).

Diese Bewegung kann (im Schlechten) ein „Heile Du“ von dritter Seite erfordern, weil sie einem Abbruch, einem Rauswurf, einem harten Schnitt des einen an der oder dem andren gleichkommt. Heilsam ist es dann, geduldig auf etwas Drittes zu warten.

Und diese Bewegung kann (prozesshaft) Ergebnis eines Auseinanderlebens, einer Interessensdivergenz sein; dann wäre das „Heile du“ ein vielleicht sogar gemeinsamer Blick auf die „heile Zeit“, die ich initiieren kann, an deren Ende dann Trennung (und nicht nur Unterscheidung) steht.

» Sie sind derjenige, der sich ändern muss, der die Arznei zu schlucken hat. Doch Sie bestehen darauf: ‚Ich fühle mich gut, weil die Welt in Ordnung ist.‘ Irrtum! Die Welt ist in Ordnung, weil ich mich gut fühle. Das ist die Botschaft, die uns alle Mystiker verkünden. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 89.

„Geht und lernt“, oder: „Du aber: heile!“

Vielleicht ist der wichtigste Satz der, den Jesus den Pharisäern mitgibt: „Geht und lernt!“ Das will ich aus dem Evangelium mitnehmen! Dann die vier Verstrickungen in Unheil, denen ich „heil-sam“, durch das Heil in mir und durch den heilenden Geist, der mir gegeben ist, begegnen kann. „Was befleckt ist, wasche rein, / Dürrem gieße Leben ein, / heile Du, wo Krankheit quält.“ Das darf mir und Ihnen gelten.  Auf das „Wie kann der nur?!“ möchte ich in drei knappen Worten antworten: „Du aber: heile!“

Amen.

Köln 06.06.2023
Harald Klein

[1] Gen 13,6-9: „Das Land war aber zu klein, als dass sich beide nebeneinander hätten ansiedeln können; denn ihr Besitz war zu groß und so konnten sie sich nicht miteinander niederlassen. Zwischen den Hirten Abrams und den Hirten Lots kam es zum Streit; auch siedelten damals noch die Kanaaniter und die Perisiter im Land. Da sagte Abram zu Lot: Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.“