Karfreitag: Dem Dunkel eine Geschichte erzählen

  • Predigten
  • –   
  • –   

Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt

Eines der prosaischen Frühwerke Rilkes sind „Geschichten vom lieben Gott“. Dreizehn Erzählungen, die 1899 entstanden und zum Teil durch den Erzählenden, allemal durch ihr Thema verbunden sind. Es geht um die vielen Fragen nach Gott, teils kindlich und fröhlich – ob er denn chinesisch sprechen könne oder wie seine Hände wohl aussehen -, teil reif und schmerzlich – ob er gegenwärtig sei, und wo er war, als das Leben sich unerträglich zeigte. „Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt“ gehört in diese zweite Kategorie der Geschichten.

Kurz zusammengefasst – der erste Teil: Dr. Georg Laßmann ist im Zug unterwegs, seine beiden verheirateten Schwestern zu besuchen. Auf der Fahrt kommt ihm die Nachbarstochter Klara Söllner in den Sinn, eine Spielgefährtin aus Kindertagen, deren Lebensweg er aus den Augen verloren hat. Sein Schwager, der Herr Rat, ist verwundert, dass Laßmann das Schicksal Klaras nicht in der Zeitung verfolgt habe, sie habe ihren Mann, einen Baurat verlassen, sei ihm durchgegangen, natürlich nicht allein, sie sei auf eine Vergnügungsreise gegangen, natürlich nicht allein. Und das, obwohl sie nichts mit in die Ehe brachte, keine Schönheit gewesen sei, man ihr gesellschaftlich alle Türen geöffnet habe. Aus Italien zurück, sei sie in München geblieben und ward nicht mehr gesehen. Rilke schreibt: „Vierzehn Tage später reiste der Doktor ab. Er wusste mit einemmal, dass er seine Kindheit anderswo suchen müsse.“[1] Er findet seine Freundin aus Kinderzeiten in einer kleinen Wohnung in Schwabing, allein erzieht sie ihren knapp zweijährigen Sohn. Klara erzählt auf Nachfrage Georgs ihre Geschichte.

So viel für den Anfang. Wir kommen auf den Weitergang der Erzählung zurück.

» Authentizität auf dieser Ebene erweist sich dort, wo mein Reden durch mein Sein beglaubigt wird. «
Schulz von Thun, Friedemann (2021) Erfülltes Leben. Ein kleine Modell für eine große Idee, München, 152.

Die Feier vom Leiden und Sterben Christi

Jetzt Karfreitag. Die großen Gottesdienste im Kirchenjahr haben eigene Namen. Da ist die „Christmette“ für den nächtlichen Gottesdienst an Weihnachten. Da ist das „Hochfest der Auferstehung des Herrn“ mit der Osternacht und dem Ostersonntag, und selbst Fronleichnam, kaum mehr beachtet, heißt eigentlich „Hochfest des Leibes und Blutes Christi“. Der Gottesdienst an Karfreitag trägt den Namen „Feier vom Leiden und Sterben Christi“.

Rilkes „Geschichte, dem Dunkel erzählt“ stellt Georgs Freundin aus Kinderzeit vor, die dem Baurat „durchgegangene“ Klara Söllner in einer Situation von Vertreibung, abgelehnt und ausgesetzt von den ach so führenden Menschen der Gesellschaft. In dieser Hinsicht kann sie Mitgefühl oder Mitleid wecken, und Klara kann an den ausgelieferten, gemarterten, geschlagenen und verratenen Jesus an Karfreitag erinnern.

Mitgefühl? Mitleid? Die „Feier vom Leiden und Sterben Christi“ am Karfreitag appelliert für mich mehr an das Mitgefühlals an das Mitleid. Wie mag es bei Dir sein? Lass mich die Begriffe unterscheiden.

Mitleid meint eine innere Anteilnahme am Leid und an der Not anderer, als mitleidiger Mensch willst Du helfen, raten, trösten, aufmuntern – etwas tun, um das Leid des anderen zu mildern, und doch bist Du oft handlungsunfähig. Mitleid hat etwas von einer Schieflage: Du begegnest jemandem, der „unten“, der „am Boden“ ist, und willst Dich hinabneigen zu ihm, zu ihr. Mitleidend bist Du besorgt, bleibst aber auch auf Distanz und Abwehr.

Mitgefühl meint eher ein inneres Anteilnehmen an der Not, der Angst anderer. Mit einem Gefühl der Wärme bist Du präsent, stellst Verbindung her und fühlst mit ihm, mit ihr mit, ohne Dich in das Leid hineinziehen zu lassen und wissend, dass Du es ihm/ihr nicht abnehmen kannst. Dem Mitgefühl geht es um liebevolle Präsenz und um Wohlwollen.

Jenseits der Spötter, der Soldaten, der Hohenpriester und der Schriftgelehrten und der angstbesetzten Jünger kannst Du in Simon von Cyrene, in Josef von Arimathäa, in den Frauen und dem Jünger Johannes unter dem Kreuz die Mitfühlenden erahnen, die Jesus an seiner Seite wusste.

» Resonanz ist eine durch Af-fizierung und E-motion, intrinsische Interessen und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 298.

Und Gott, der „Vater“

Die Frage des Karfreitags, gerade im Moment zwischen „Leiden und Sterben Christi“ ist die Frage nach der Gegenwart Gottes. Im Matthäus-Evangelium und im Markus-Evangelium lassen die beiden Evangelisten Jesus am Kreuz vor seinem Sterben rufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“, dann schreit er mit lauter Stimme und haucht seinen Geist aus. Ganz anders das Lukas-Evangelium. Hier ruft Jesus mit lauter Stimme: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist.“ Bei Johannes schließlich sind die letzten Worte Jesu: „Es ist vollbracht.“ Dann neigt er das Haupt und übergibt den Geist.

Gerne würde ich mit Dir eine Einübung in das Mitgefühl versuchen. In ein Mitgefühl mit Jesus, der schwankt, ob Gott da ist oder nicht, ob er sich ihm in die Hand geben kann oder nicht, ob er das, was er mitbringt, seinem „himmlischen Vater“ übergeben kann oder nicht.

Das, was Jesus sterbend am Kreuz erlebt, ist das, was man in der christlichen Spiritualität Dunkelheit nennt. Vielleicht kennst Du diese Dunkelheit aus eigener Anschauung. Du ahnst die Menschen, die mit Dir mitfühlen, aber ob dieses Mitfühlen wieder Licht bringt? Du ahnst die Menschen, die mit Dir mitleiden, aber ob deren Ratschläge Dir Halt geben? In der Dunkelheit sind nicht Worte und Ratschläge hilfreich, sondern Beziehung.

» Ich fühlte, dass er war, irgendwann einmal war... [...] Jetzt denke ich manchmal: Er wird sein. «
Rilke, Rainer Maria (1982): Geschichten vom lieben Gott, in: Werke, Bd. 3.1 – Prosa, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 89f.

„Gott war“ – „Gott wird“

Lass mich Dir den Schlussteil von Rilkes „Geschichte, dem Dunkel erzählt“ zitieren. Mit Antonio, dem unbekannten Maler, hat Klara Italien, vor allem Florenz besucht. Als er in München künstlerisch zu verkümmern drohte, gab Klara ihn frei, damit er Kunst und Künstler studieren kann. Ein Kind wollte sie von ihm, und wenn der kleine Antonino seinen Namen sprechen kann, möge der Vater, der Künstler zu ihnen beiden zurückkehren. Dr. Georg Laßmann ist über die Größe Klaras zutiefst erstaunt. Und er deutet das, was er hört und sieht mit folgenden Worten:

„‘Ich habe mir eben überlegt, was Ihnen könnte geholfen haben zu – zu sich selbst, zu diesem ruhigen Sichbesitzen. Das Leben hat es Ihnen doch nicht leicht gemacht. Offenbar half Ihnen etwas, was mir fehlt?‘ – ‚Was sollte das sein, Georg?‘ Klara setzte sich neben ihn. ‚Es ist seltsam; als ich mich zum erstenmal wieder Ihrer erinnerte, vor drei Wochen nachts, auf der Reise, da fiel mir ein: sie war ein frommes Kind. Und jetzt, seit ich Sie gesehen habe, trotzdem Sie so ganz anders sind als ich erwartete – trotzdem, ich möchte fast sagen, nur noch sicherer, empfinde ich: was Sie geführt hat, mitten durch alle Gefahren, war Ihre – Ihre Frömmigkeit.‘ – ‚Was nennen Sie Frömmigkeit?‘ – Nun, Ihr Verhältnis zu Gott, Ihre Liebe zu ihm, Ihr Glauben.‘ […] (Klara erklärt:) ‚Ich wusste nichts von ihm. Ich hatte ihn ganz vergessen. Ich hatte alles vergessen. – Erst in Florenz: als ich zum erstenmal in meinem Leben sah, hörte, fühlte, erkannte und zugleich danken lernte für alles das, da dachte ich wieder an ihn. Überall waren Spuren von ihm. In allen Bildern fand ich Reste von seinem Lächeln, die Glocken lebten noch von seiner Stimme, und an den Statuen erkannte ich Abdrücke seiner Hände.‘ – ‚Und da fanden Sie ihn?‘ – Klara schaut den Doktor mit großen, glücklichen Augen an: ‚Ich fühlte, dass er war, irgendwann einmal war… warum hätte ich mehr empfinden sollen? Das war ja schon Überfluss.‘ Der Doktor stand auf und ging ans Fenster. Man sah ein Stück Feld und eine kleine, alte Schwabinger Kirche, darüber Himmel, nicht mehr ganz ohne Abend. Plötzlich fragte der Doktor, ohne sich umzuwenden: ‚Und jetzt?‘ Als keine Antwort kam, kehrte er leise zurück. ‚Jetzt‘, zögerte Klara, als er gerade vor ihm stand und hob die Augen voll zu ihm auf: ‘Jetzt denke ich manchmal: Er wird sein.‘“[2] (89f)

In der Gegenwart eines Menschen, in Deiner Gegenwart und auch in der Gegenwart Jesu am Kreuz, kann eine Dunkelheit erfahren werden, die kaum Luft zum Leben lässt. Ob es zu diesem Zeitpunkt noch Kraft zum Blick in die Vergangenheit gibt, in der Gott einmal gegenwärtig war? Oder ob es zu diesem Zeitpunkt einen Willen zum Blick in die Zukunft gibt, in der Gott einmal als gegenwärtig erhofft wird, sei dahingestellt.

Das einzige, was Du tun kannst, um durch die Dunkelheit zu gelangen, sind „Florenz-Momente“ zu sammeln, um Klaras Bild aufzugreifen. Immer wieder wie zum ersten Mal sehen, hören, fühlen, erkennen und zugleich danken lernen für alles das. Dir Gott präsent halten, ihn sehen als der, der war, und ihn erhoffen als der, der sein wird. Das ist keine Garantie, keine „Impfung“ gegen die Erfahrung der Dunkelheit. Aber es eine Art von Gottes-Prophylaxe, die ich auch in Jesu Leben erkenne – und mit der er ins Sterben gegangen ist.

Amen.

Köln, 28.04.2024
Harald Klein

[1] Rilke, Rainer Maria (1982): Geschichten vom lieben Gott, in: Werke, Bd. 3.1 – Prosa, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 84.

[2] a.a.O., 89f.