Achtsam fühlen

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Die Liebe erkennen?

In den Momenten, in denen alles rundläuft, ist der Auftrag Jesu in den Abschiedsreden wunderschön: „Dies trage ich Euch auf: Liebt einander! Wie ich Euch geliebt habe, so sollt auch Ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass Ihr meine Jünger seid: wenn Ihr einander liebt.“

Wie steht es um unseren liebenden Umgang miteinander? Erkennt man uns als Jüngerinnen und Jünger Jesu, weil wir einander lieben?

Wie erkennen Sie „Liebe“? Woran machen Sie fest, dass zwei Menschen liebend miteinander verbunden sind? Und noch viel spannender die Frage, woran und wie Sie merken, dass jemand Ihnen liebend begegnen will, seine/ihre Liebe Ihnen anbietet. Um es etwas flapsig zu fragen: Wie fühlt sich „Liebe“ an?

Die Unterscheidung von Eros, Agape und Philia

Die griechische Sprache kennt drei Worte, die wir im Deutschen oft leichtfertig mit „Liebe“ übersetzen.

Da ist einmal der Eros als grobe Umschreibung für die körperliche Liebe. Zur erotischen Liebe gehört zuerst eine Anziehungskraft zweier Menschen füreinander, gemeint ist Eros nicht ausschließlich als Triebkraft in einer Beziehung. Diese Anziehungskraft zu bemerken, sie anzunehmen, aus ihr heraus Beziehungen zu gestalten ist Ausdruck einer geistigen, sogar spirituellen Lebendigkeit. Es gilt, ihre Grenzen zu beachten.

Da ist zum zweiten die Agape, oft als uneigennützige oder spirituelle Liebe bezeichnet. Es ist die liebende Beziehung des Individuums zu allen Mitgeschöpfen, die Erich Fromm sehr schön in seiner „Kunst des Liebens“ beschrieben hat. Oft wird sie überhöht dargestellt als bedingungslose, befreiende und auf andere zentrierte Liebe. Ich möchte sie gerne übersetzen als Mitschwingen in Gottes bedingungslosem Ja zu allem, was lebt.

Und da ist als drittes soll die Philia genannt sein, die geistige Liebe, die eine Freundschaft auszeichnet. Hier spielen ähnliche Interessen, Lebensvorstellungen und Werte eine große Rolle.

„… wenn Ihr einander liebt“: Gerne möchte ich festhalten, dass in Jesu neuem Gebot von allen drei Weisen der Liebe die Rede sein kann. Wie würde ein Leben in Christus und mit Christus in Gemeinschaft aussehen, wenn nur eine der drei Weisen der Liebe herrscht, oder wenn eine oder zwei fehlen? Malen Sie sich Ihr Christsein doch einmal aus mit der Frage, wo und wie Sie die Anziehungskraft des Eros, diese dienende und uneigennützige Agape und diese auf spirituelle Übereinstimmung abzielende Philia erleben. Gerne auch mit der Frage, was Sie vermissen oder was Ihnen besonders wertvoll ist.

Achtsam fühlen

Eine Möglichkeit, diesen Fragen nachzugehen, bietet das achtsame Fühlen. Sie nehmen einen Menschen in Ihr Bewusstsein, der Ihnen lieb ist. Schauen Sie, welche Gedanken und vor allem welche Gefühle Ihnen da kommen.

Oft fehlen uns Adjektive, mit denen wir unsere Gefühle beschreiben können. Über ein „es fühlt sich gut an“ kommen wir nur schwer hinaus. Aus der „Gewaltfreien Kommunikation“ von Marshall Rosenberg Sind uns über 80 Adjektive überliefert, die beschreiben, wie wir uns fühlen werden, wenn unsere Bedürfnisse erfüllt werden. Ich habe Ihnen diese Adjektive in einem Methodenblatt zusammengestellt. Von einem Menschen geliebt zu werden, kann mich beleben, fesseln, anregen, zufrieden, vergnügt uvm. machen.

Der Umkehrschluss

Noch einmal die inspirierende Liste von Marshall Rosenberg: Der Umkehrschluss lautet, dass überall da, wo Menschen sich liebend begegnen, das neue Gebot Jesu erfüllt wird. Da spielt zuerst eine Anziehungskraft derer, die für Christus einstehen, eine Rolle. Dem folgt die spirituelle Freundschaft dieser Menschen zueinander, und aus beidem folgt eine dienende Dimension allem Lebendigen gegenüber. Für meine Arbeit im interkulturellen und interreligiösen Bereich ist dieser Umkehrschluss sehr wichtig. Gerne möchte ich für Christus einstehen – entscheidend ist aber, ob es eine Anziehungskraft zwischen dem/der anderen und mir gibt, die von meiner Seite mit meiner Nachfolge vereinbar ist. Wo treffen wir uns? Was kann an Freundschaft, auch an spiritueller Freundschaft entstehen? Und welcher Dienst an allem Lebendigen folgt daraus? Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele solcher „Philia“-Freundschaften entstehen zu Menschen, die vom Heiligen Geist noch nichts gehört haben oder nichts hören wollen. Und ich glaube zutiefst, dass sie von genau diesem Geist beseelt sind. „…wenn Ihr einander liebt“! Achtsam schauen und fragen, was der/die andere braucht, achtsam fühlen, was der Kontakt mit ihm/ihr in mir auslöst, und dann in spiritueller Freundschaft sich der Welt und allem Lebendigen zuwenden: Daran wird man erkennen, wer ein Jünger, eine Jüngerin Christi ist.

Amen.

Köln, 19.05.2019
Harald Klein