Christi Himmelfahrt – Die Augen zu Himmel, oder: Das Konzept vom uneindeutigen Verlust

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Irgendwo zwischen Anfang und Ende

Denjenigen unter Ihnen, die einen Dienst als Lektorin oder Lektor übernommen haben, könnte es auffallen: Die erste Lesung aus der Apostelgeschichte ist der wirkliche Anfang dieses Buches, gelesen wird aus dem 1. Kapitel die Verse 1-11. Hier geht es um die Himmelfahrt Jesu, der nahtlose Anschluss des Verfassers, den wir Lukas nennen, an das Ende seines Evangeliums, das ebenfalls heute gelesen wird.

Die zweite Lesung aus dem Epheserbrief ist auch dem Anfang des Briefes entnommen. Er beginnt mit dem Gruß und den Lobpreis Gottes, die Verse 17-23 aus dem 1. Kapitel sind dann eine Fürbitte des Paulus für die Christen von Ephesus, die in eine Beschreibung dessen mündet, was mit Christus nach seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt geschehen ist.

Das Evangelium schließlich bildet die „Antithese“, es sind die Schlussverse aus dem Lukasevangelium, das der Verfasser, den wir Lukas nennen, mit der Schilderung der Himmelfahrt Jesu enden lässt, die Geschehnisse also, bei denen die Apostelgeschichte, die auch von Lukas verfasst wurde, beginnt.

Der Himmelfahrtstag scheint eines zeigen zu wollen: Das eine – die Gegenwart Jesu von Nazareth bzw. dann des Auferstandenen – geht zu Ende, und etwas Neues beginnt. Der Sontag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten wird das noch einmal deutlicher zeigen: Christus ist schon weg, gen Himmel gefahren – aber das Neue hat sich noch nichtdurchgesetzt, ist nur still und leise am Werk. Vielleicht trifft es das besser: Ich stehe als Christ nicht nur irgendwo zwischen Anfang und Ende, sondern mehr noch zwischen schon und noch nicht.

»Um die inneren Wogen zu glätten, hilft es, sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben, die man gut kennt und denen man vertraut. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 17.

Die Erzählung von der Himmelfahrt Christi…

Es gibt wenig Szenen, die ich Jahr für Jahr so gerne erwarte wie die Szene der Himmelfahrt. Der Auferstandene wird vor den Augen der Jünger, die beim Mahl waren, „vor ihren Augen emporgehoben“. In süddeutschen und tiroler Barockkirchen ist es üblich, dass der Küster eine Christusfigur während des Evangeliums mit einem Seil auf den Dachboden der Kirche zieht. Ob das wirklich hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln – aber die Jünger sehen, spüren, erleben, wie sich da einer vor ihren Augen und ihren Augen entzieht. „Unverwandt“ – wieder mal so ein schönes doppeldeutiges Wort – bleiben sie stehen und schauen zum Himmel. Was mögen Sie in den Gesichtern der Jünger sehen? Tränen des Abschiedes? Entsetzen? Staunen? Wut? Sie mögen den Hals recken, solange sie wollen – Christus, der doch immer wieder von der Wiederkunft sprach, hat sich den Jüngern entzogen.Sie hatten sicher andere Pläne gehabt!

Und dann die beiden Männer in den weißen Gewändern: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.“

Dieses Wort klingt für mich danach, nicht länger den Hals zu recken und zum Himmel hinaufzuschauen, sondern auf Augenhöhe zu gehen mit der Welt und den Menschen um mich herum und mein Ding zu tun – bis er denn wiederkommt. Die Erde möchte ich unter die Füße nehmen! Und genau darin habe ich den Himmel im Blick!

» Irgendwann muss man sich damit abfinden, für Menschen, von denen man annahm, dass sie immer eine wichtige Rolle im eigenen Leben spielen würden, nur noch in der zweiten oder dritten Reihe zu rangieren. Meistens kann man diese Zurückstellung niemandem übelnehmen, weil man weiß, dass sich in dieser Situation für einen selbst ähnliche Verschiebungen ergeben würden. Weil es zum Charakter jeder Freundschaft gehört, dass sie sich im Laufe des Lebens verändert. Dennoch ist es schwer. Man fühlt sich verstoßen und ist mit einer Lücke konfrontiert, von der man zunächst nicht weiß, wie man sie füllen soll. Der Mensch, der einem so nahestand, ist zwar noch da, zugleich aber auch nicht. In mancher Hinsicht kommt das einem ‚uneindeutigen Verlust‘ gleich.«
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 79f.

… und das Konzept vom uneindeutigen Verlust

Leichter als theologisch kann dieses Geschehen der Himmelfahrt Jesu und was es mit seinen Jüngern macht sozialpsychologisch erklärt werden. Daniel Schreiber widmet dem Phänomen der „Uneindeutigen Verluste“ in seinem Buch „Allein“[1] ein ganzes Kapitel. Der Begriff wurde von der amerikanischen Psychologin Pauline Boss eingeführt.[2] „Uneindeutige Verluste“ können physischer Art sein, etwa dann, wenn Menschen in Kriegszeiten oder durch Verbrechen nicht mehr auffindbar sind, es aber keine klaren Anzeichen für deren Tod gibt. „Uneindeutige Verluste“ können psychischer Art sein, z.B. durch den Verlust der Persönlichkeit bei Demenzkranken, die körperlich noch „da“ sind. Der Verlust eines Kindes in den ersten Wochen der Schwangerschaft steht zwischen diesen beiden Formen: physisch ist der Fötus oder das kleine Kind tot, psychisch entzieht sich den Eltern das Leben mit diesem Kind und das Leben für dieses Kind.

Alle Weisen des „uneindeutigen Verlustes“ haben eine „Ambiguität von Anwesenheit und Abwesenheit“[3], eine unklare Gleichzeitigkeit, die sich zu traumatischem Erleben auswachsen kann.

Schreibers Verdienst ist es, dieses Phänomen der „uneindeutigen Verluste“ in seinem Buch „Allein“ auf Freundschaften hin zu beschreiben, vor allem dann, wenn einer der Freunde oder eine der Freundinnen alleine lebt und der Freund/die Freundin einen Partner findet, aber auch das Leben von Freundschaft in den schwierigen zwei Jahren der Corona-Pandemie. Der, der zurückbleibt – allein schon dieses Wort ist wertend – erlebt einen „uneindeutigen Verlust“.

Schreiber versucht, diesen Begriff zu fassen: „Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein ‚sowohl als auch‘ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. Pauline Boss zufolge geht mit uneindeutigen Verlusten eine eigene Form der Traumatisierung einher.“[4]

» Das Schwierigste an den uneindeutigen Verlusten des Lebens allein ist nicht die Trauer um die fehlende Beziehung. Das Schwierigste ist der Abschied von all den Fantasien, die man für sein Leben hatte, den vielen selbstverständlichen Vorstellungen. Man betrauert ein Lebensmodell, das einem nicht nur überall vorgelebt wird, sondern das man auch selbst verinnerlicht hat. Man muss sich von der Idee lösen lernen, dass man eine Familie gründen, Kinder bekommt und sie heranwachsen sieht, dass man irgendwann auf ein gemeinsames Leben zurückschauen und sagen kann, schau mal, so schlecht war das nicht. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 84.

Den Wiederkommenden nicht im Himmel suchen

Was hilft in solchen Erfahrungen von Traumatisierung durch uneindeutigen Verluste? Es mag heftig klingen, dennoch glaube ich, dass es stimmt: Was für die Jünger in Jerusalem nach der Himmelfahrt Jesu gilt, das gilt für die, die ihre Angehörigen nach Kriegen oder Verbrechen vermissen, das gilt für werdende Eltern, die ein Kind durch eine Fehlgeburt verloren haben, das gilt für Angehörige von an Demenz Erkrankten, und das gilt für Freundschaften, die sich über kurz oder lang verändern – oft nur für den einen bzw. die eine, aber meistens dann durch den anderen, durch die andere. Man steht dann da wie die Jünger bei der Himmelfahrt, den Blick vielleicht zum Himmel, eher zum Boden gerichtet, hängenden Kopfes, und fühlt sie wie der begossene Pudel, wie ein Zurückgelassener – wenn man denn fühlt. Ein uneindeutiger Verlust im Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, und wie bei der Himmelfahrt gibt es das „schon“ der Veränderung und das „noch nicht“ des neuen Einspielens z.B. von Freundschaft.

Was hilft, ist das Wort der Männer in den weißen Gewändern: Er, der in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn zum Himmel habt hingesehen sehen.“ Aber nicht den Himmel in den Blick nehmen, sondern die Erde und was zu ihr gehört, nicht den Himmel, sondern meine Welt!

» Zwischen all den Geschichten, die wir uns erzählen, um zu leben, und zwischen all den Versuchen, diese Geschichten abzulegen, wenn wir merken, dass sie unsere Sicht auf die Dinge verzerren und zu selbstgebauten Gefängnissen werden, gibt es Momente der Stille. Ich hatte den Eindruck, einen solchen Moment zu erleben. Es sind Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und es Nichtwissen-Müssens. Es sind Momente, in denen man manchmal, ohne es zu merken, einen Schritt nach vorn macht und eine neue Richtung einschlägt. Es sind genau diese Momente, in denen sich das Leben neu schreibt. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 140.

Irgendwo zwischen Anfang und Ende: Still werden

Im Erleben von solchen uneindeutigen Verlusten stehen Sie, stehe ich irgendwo zwischen Anfang und Ende. Der Unsicherheit der Jünger, der Sorge der Eltern um die vermissten, der Trauer der werdenden Eltern um das totgeborene Kind, die Verzweiflung der Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen, der Verunsicherung und Einsamkeit der scheinbar zurückgelassenen Freunde hält Daniel Schreiber am Ende seines Buches Momente der Stille entgegen. Gut möglich, dass in spiritueller und meditativer Hinsicht darin ein großes Moment der Resilienz im Erleben von uneindeutigen Verlusten liegt. Schreiber gesteht sich, mir Ihnen zu: „Zwischen all den Geschichten, die wir uns erzählen, um zu leben, und zwischen all den Versuchen, diese Geschichten abzulegen, wenn wir merken, dass sie unsere Sicht auf die Dinge verzerren und zu selbstgebauten Gefängnissen werden, gibt es Momente der Stille. Ich hatte den Eindruck, einen solchen Moment zu erleben. Es sind Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und es Nichtwissen-Müssens. Es sind Momente, in denen man manchmal, ohne es zu merken, einen Schritt nach vorn macht und eine neue Richtung einschlägt. Es sind genau diese Momente, in denen sich das Leben neu schreibt.“[5]

Es sind genau diese Momente…

Amen.

Köln 19.05.2022
Harald Klein

[1] Schreiber, Daniel (2021): Allein. 6. Aufl., München.

[2] Vgl. Boss, Pauline (2008): Verlust, Trauma und Resilienz. Die therapeutische Arbeit mit dem „uneindeutigen Verlust“, Stuttgart.

[3] Andreas G. Franke. Rezension vom 20.05.2009 zu: Pauline Boss: Verlust, Trauma und Resilienz. Die therapeutische Arbeit mit dem „uneindeutigen Verlust“. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2008. In: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/7653.php [19.05.2022]

[4] Schreiber, Daniel (2021): Allein. 6. Aufl., München, 79f.

[5] a.a.O., 140.