Ein Blick auf die Leitgedanken der Enzyklika
Nach Lumen fidei (2013) und Laudato si`(2015) ist Fratelli tutti die dritte Enzyklika aus der Feder von Papst Franziskus.[1] Auch wenn die Enzyklika im Titel nur die Brüder nennt, weist der Papst bereits in (FT 1) darauf hin, dass der hl. Franziskus so alle Brüder und Schwestern angesprochen habe, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen. Der Titel der Enzyklika lautet demgemäß auch: Enzyklika Fratelli tutti des Heiligen Vaters Papst Franziskus Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“.
Nothelle-Wildfeuer[2] sieht in der Enzyklika, die mitten in der Corona-Pandemie geschrieben wurde, eine Antwort auf die Frage, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen, wie wir die Welt gestalten wollen, was wir gerade in der Corona-Krise gelernt haben und welche Konsequenzen wir ziehen wollen. Eine Besonderheit liegt darin, dass der Papst betone, man könne nicht nach einer solchen Krise bereits vorhandene Systeme und Regeln einfach verbessern, um auf den bisherigen Pfaden weiterzugehen. Stattdessen bedürfe es einer Neuorientierung, eines gesellschaftlichen und politischen Wandels zu mehr Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit.
Ein immer wieder auftauchendes Instrument dieses gesellschaftlichen und politischen Wandels ist der Dialog als methodisches und inhaltliches Anliegen, eindrucksvoll vorgegeben im Dialog des Papstes mit dem orthodoxen Patriarchen Bartholomaios bei Laudato si´ und jetzt mit dem Großimam Ahmad al-Tayyeb in Abu Dhabi für „Fratelli tutti“. Nothelle-Wildfeuer schreibt: „Engagement für die Weltgemeinschaft aus dem Gedanken der gottgewollten Geschwisterlichkeit heraus ist ein religionsübergreifendes Thema und anliegen, mit dem der Papst sich sogar darüber hinaus an alle Menschen guten Willens richtet und damit dem klassischen Ansatz einer Sozialenzyklika gerecht wird.“[3]
Die Leitgedanken der Enzyklika sind die beiden Begriffe „Geschwisterlichkeit“ und „soziale Freundschaft.“ Die Geschwisterlichkeit sei bedroht, so der Papst, solange die Würde des einzelnen nicht für alle Menschen anerkannt wird, im Klartext: solange es noch Unterschiede im Zusprechen der individuellen Würde zwischen Armen und Reichen, Männern und Frauen, Freien und Sklaven gibt, solange ist die Welt nicht geschwisterlich. Wohlgemerkt: es geht dem Papst nicht um eine Einheitsgesellschaft, sondern um die Geltung der Menschenrechte für alle Menschen (vgl. FT 22). Gleichzeitig spricht er als Voraussetzung dafür von einer universalen Geschwisterlichkeit, die für alle offen ist (vgl. FT 94). Die Menschen seien dann verbunden durch eine soziale Freundschaft.
Was für den einzelnen individuellen Menschen gilt – Glied einer universalen Geschwisterlichkeit, verbunden mit und durch soziale Freundschaft -, das gilt analog auch für die Ebene er einzelnen Nationen, der Völker, der Staaten, mit all ihren kulturellen Identitäten. Leben ist die Kunst der Begegnung. Auf beiden Ebenen – der des Individuums wie der der Staaten – verwendet der Papst das Bild des Polyeders (vgl. FT 215): Viele Seiten, die zusammen eine nuancenreiche Einheit bilden. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussion und mit Argwohn. Der Polyeder – des Individuums wie das der Staaten – ist mehr als die Summe seiner Teile.
Theologischer Hintergrund: Das Gleichnis des barmherzigen Samariters – Der Fremde am Weg
Das erste und grundlegende Kapitel beschreibt die Schatten einer abgeschotteten Welt, beschreibt geplatzte Träume, die Planlosigkeit des Handels auf die Zukunft hin, die Situation der Menschen, die als „Ausschuss“ gesehen werden und sich oft selbst sehen. An die Menschenrechte wird erinnert, und daran, dass sie nicht für alle Geltung haben. Das Fehlen eines gemeinsamen Kurses für Globalisierung und Fortschritt wird bedauert, sowohl die Pandemie als auch die Situation der Menschen in den Migrationsbewegungen zeigt die Notwendigkeit einer Neuorientierung. Von täuschender Kommunikation i.S.v. Aggressivität ohne Scham oder Information ohne Weisheit ist die Rede, oft genug begleitet von Unterwerfung und Selbstverachtung. Der Papst beendet das erste Kapitel mit dem Hinweis und dem Aufruf zur Hoffnung auf Weggefährtinnen und Weggefährten, die erkannt haben, wie sehr das Leben aller miteinander verwoben ist.
Im zweiten Kapitel liefert der Papst einen theologischen Hintergrund für sein Anliegen, für Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft in der Welt. Dies geschieht anhand des Gleichnisses des barmherzigen Samariters (Lk 10,25-37). Stichwortartig kann der theologische Hintergrund wie folgt umschrieben werden:
Es geht um eine Geschichte, die sich wiederholt, da wir unvermeidlich auf verletzte Menschen treffen, aber auch auf Menschen, die sich bücken, um zu helfen, und auf Menschen, die vorübergehen. (FT 69-71).
In dieser Geschichte spielen die Personen die entscheidende Rolle. Da sind zum einen die Räuber, heute Menschen, die Gewalt anwenden und die für schäbige Machtinteressen, Gier und Konflikte stehen. Wie reagieren wir? Lassen wir die Verletzten liegen, um uns in Sicherheit zu bringen, um die Räuber zu verfolgen – oder bücken wir uns ihnen entgegen (FT 73).
Der vorbeigehende Priester und der vorbeigehende Levit – das Vorbeigehen kann als Frucht einer Geringschätzung oder einer betrüblichen Zerstreutheit, die aus den beiden traurige Spiegelbilder jener Absonderung von der Wirklichkeit macht, im Rückbezug auf sich selbst oder auf das Wegschauen vor dem, was auch da ist. Die Besonderheit: Die Vorübergehenden sind religiöse Menschen, die sich dem Gottesdienst widmen. Die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, ist keine Garantie dafür, dass man auch so lebt, wie es Gott gefällt. Paradoxerweise können die, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden (FT 73f). Für uns heutige gilt: Haltungen wie „Alles geht schief“, „Keiner kann es richten“, „Was kann ich schon machen“ sind Verbündete der Straßenräuber!
Der verletzte Mensch – manchmal fühlen wir uns wie er: schwer verletzt am Straßenrand liegend. Im Stich gelassen von ohnmächtigen, schlecht ausgerüsteten Institutionen, die manchmal den Interessen einiger weniger von innen und außen dienen. Und wir sehen sie unvermeidlich um uns herum.
Der Samariter: Wir können von unten, bei einer Sache beginnen und für das kämpfen, was ganz konkret und naheliegend ist, und bis zum letzten Winkel des eigenen Landes und der ganzen Welt weitergehen. Suchen wir die anderen, und nehmen wir die uns aufgetragene Wirklichkeit in die Hand, ohne Angst vor Schmerz und Unvermögen, denn dort liegt all das Gute verborgen, das Gott in das Herz des Menschen gesät hat. Der Samariter ging fort, ohne Anerkennung und Dank zu erwarten. Seine dienende Hingabe brachte ihm gro0ßen Frieden mit Gott und sich selbst und war ihm deshalb eine innere Verpflichtung (FT 76-78)
Es geht nicht um Angehörige der eigenen Gruppe oder Ethnie. Jesus stellt den Begriff auf den Kopf. Er ruft uns nicht auf, danach zu fragen, wer die sind, die uns nahe sind, sondern uns selbst dem Verletzten zu nähern, selbst zum Nächsten zu werden (FT 79).
Hier liegt theologisch der „Wendepunkt“ der Enzyklika: Für eine Welt der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft geht es nicht darum die Frage zu stellen, wer mein Nächster sei, sondern wie ich zum Nächsten für andere werden kann! Und was für den Einzelnen – in individueller Perspektive – gilt, gilt vice versa – in struktureller Perspektive – auch für Nationen, Völker und Kulturen!
Die Inhalte der folgenden Kapitel der Enzyklika:
Der weitere Text der Enzyklika gliedert sich in folgende Kapitel:
Kapitel 3: Eine offene Welt denken und schaffen: Der einzigartige Wert und die fortschreitende Öffnung der Liebe – (Über eine Welt von Menschen seinesgleichen hinausgehen – Universale Liebe zur Förderung der Menschen – Das moralisch Gute fördern – Die soziale Funktion des Eigentums neu denken (FT 87-127)
Kapitel 4: Ein offenes Herz für die ganze Welt: Die Beschränkung von Grenzen – Lokal und universal (FT 128-153)
Kapitel 5: Die beste Politik: Populismus und Liberalismus – Die internationale Macht – Eine soziale und politische Liebe – Die Tätigkeit der politischen Liebe – Mehr Fruchtbarkeit als Erfolge (FT 154-197)
Kapitel 6: Dialog und soziale Freundschaft: Der gesellschaftliche Dialog auf eine neue Kultur hin – Die Grundlage des Konsenses – Eine neue Kultur – Die Freundlichkeit zurückgewinnen – (FT 198-224)
Kapitel 7: Wege zu einer neuen Begegnung: Von der Wahrheit her neu beginnen – Die Architektur und das Handwerk des Friedens – Wert und Bedeutung der Vergebung – Erinnerung – Krieg und Todesstrafe – (FT 225-270)
Das Schlusskapitel: Die Religionen im Dienst an einer geschwisterlichen Welt
Der Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen findet nach den Überlegungen von Papst Franziskus nicht nur aus Diplomatie, Freundlichkeit oder Toleranz statt. Ziel des Dialoges ist es, Freundschaft, Frieden und Harmonie zu begründen sowie moralische und spirituelle Werte und Erfahrungen in einem Geist der Wahrheit und Liebe zu teilen (vgl. FT 270).
Die Grundhaltung der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft, die seitens der Religionen unterstütz werden können, sind nach Papst Franziskus Freundschaft, Frieden und Harmonie. Sie setzt eine Offenheit gegenüber einem transzendenten Gott, im Christentum: dem himmlischen Vater, voraus, um eben nicht Diplomatie, Freundlichkeit und Toleranz zu sein (vgl. FT 271).
Die Kirche schätzt das Handeln Gottes in anderen Religionen und lehnt nichts von dem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Sie findet in ihnen einen Strahl jener Wahrheit, die all Menschen erleuchtet. Für uns Christen liegt die Quelle der Menschenwürde und der Geschwisterlichkeit im Evangelium Jesu Christi (vgl. FT 276)
Zwischen den Religionen ist ein Weg des Friedens möglich. Der Ausgangspunkt muss der Blick Gottes sein, denn Gott schaut nicht mit den Augen, Gott schaut mit dem Herzen (FT 280).
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Impulse für die eigene Betrachtung
In allen wesentlichen Punkten spricht Fratelli tutti zuerst das Individuum, dann die Individuen in Begegnung und dann die Beziehungen der Völker, Nationen und Staaten an. Die folgenden drei Zitate können von daher in allen drei Sichtweisen betrachtet werden. Es geht um die Frage, was eine Geschwisterlichkeit und eine soziale Freundschaft mit mir selbst und in den Begegnungen, die ich habe, wachsen lassen kann. Und: Gibt es eine Möglichkeit, mich für dieses Wachstum auch auf der eben der Völker, Kulturen und Staaten einzusetzen?
Stichwort „Begierlichkeit“:
„Das Problem ist die menschliche Schwachheit, die beständige menschliche Tendenz zum Egoismus, der Teil dessen ist, was die christliche Tradition „Begierlichkeit“ nennt: die Neigung des Menschen, sich in der Immanenz des eigenen Ichs zu verschließen, seiner Gruppe, seiner armseligen Interessen.“ (FT 166)
Wie und wo erlebe ich die geschilderte Begierlichkeit bei mir selbst, in meinen Begegnungen, in der Begegnung von Völkern, Nationen und Staaten?
Stichwort „meine Wahrheit(en)“
„Wir müssen uns angewöhnen, die verschiedenen Arten und Weisen der Manipulation, Verzerrung und Verschleierung der Wahrheit im öffentlichen und privaten Bereich zu entlarven. Was wir „Wahrheit“ nennen, ist nicht nur die Faktenvermittlung durch den Journalismus. Es ist vor allem die Suche nach den stabilsten Grundlagen für unsere Entscheidungen und auch für unsere Gesetze.“ (FT 208)
Was sind die stabilen Grundlagen für meine Entscheidungen und für die Gesetze, nach denen ich mein Leben ausrichte? Wie kann aufgrund dieser Grundlagen und aufgrund meiner Entscheidungen die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft (in mir, in meinen Begegnungen, auf der Ebene der Völker, der Kulturen und der Staaten) wachsen?
Stichwort „Kultur der Begegnung“
„Das Leben ist die Kunst der Begegnung, auch wenn es so viele Auseinandersetzungen im Leben gibt. Ich habe wiederholt dazu eingeladen, eine Kultur der Begegnung zu entwickeln, die über die stets aneinandergeratenen Dialektiken hinausgeht. Es ist ein Lebensstil, der eine Polyederbildung mit vielen Facetten und sehr vielen Seiten, die aber zusammen eine nuancenreiche Einheit bilden, fördert, denn »das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn.“ (FT 215)
Das Bild des Polyeders: welche und wie viele Seiten finde ich in mir, die in Begegnung miteinander gebracht werden müssen, um dem Legen dienen zu können? Wo erlebe ich diese Struktur des Polyeders in meinen Begegnungen, wo und wie erlebe ich sie in der Begegnung der Völker, der Kulturen und der Staaten? Zu welchem Beitrag einer Kultur der Begegnung verlockt es mich?
Köln, 22.10.2020
Harald Klein
[1] Evangelii gaudium (2013) ist ein Apostolisches Schreiben, Amoris laetitia (2016) gehört in die Gattung eines nachsynodalen Apostolischen Schreibens.
[2] Vgl. im Folgenden: Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Würdigung der neuen Enzyklika Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft [online] https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-159c-Würdigung-Prof.-Nothelle-Wildfeuer-über-die-Sozialenzyklika-Fratelli-tutti.pdf [20.10.2020]
[3] a.a.O., 2.