Dritter Adventssonntag – Vom menschgedachten Gott zum gottgedachten Menschen

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Zweimaliges Hörensagen

Etwas nur vom Hörensagen kennen, hat – wenn man es möglichst genau oder gar wissenschaftlich fundiert wissen will – keinen guten Ruf. Und trotzdem: was ich vom (vor allem wiederholten) Hörensagen „weiß“, bleibt irgendwie besser haften und geht tiefer als das, was ich in einem Wissenschaftsjournal lese. Schlimm genug, dass es so ist, hier heißt es gleichermaßen wachsam und achtsam zu sei.

Gleich zweimal schildert Matthäus in seinem Evangelium heute dieses Hörensagen. Da ist zuerst Johannes „der Täufer“. Von König Herodes ins Gefängnis gesperrt, schickt er seine Jünger zu Jesus, um ihn fragen zu lassen: „Bist du der, der da kommen soll? Jesus hält sich vornehm zurück und weist die Jünger des Johannes an: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet“ (vgl. Mt 11,4f). Die Antwort an Johannes ist Hörensagen: seine Jünger haben sie – so versichern sie es – von Jesus, und sie geben weiter, was sie – angeblich? – über Jesus gehört oder vielleicht auch gesehen haben.

Dann dreht es sich um: Jesus redet zur Menge über Johannes: „Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt? Oder was habt ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Mann in feiner Kleidung? Siehe, die fein gekleidet sind, findet ihr in den Palästen der Könige[1]. Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch, sogar mehr als einen Propheten. Dieser ist es, von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bahnen wird. Amen, ich sage euch: Unter denen von einer Frau Geborenen ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er“ (vgl. Mt 11,7-11).

Es mag sein, dass die „Menge“ sich schon ein Bild von Johannes dem Täufer gemacht hat, vielleicht hörten sie in Jesu Frage-Antwort-Spiel das erste Mal von ihm. Allemal ist das, was Jesus zum Ende seiner Rede hin sagt, für sie neu, unbekannt, vielleicht unbegreiflich – und sie kennen es und vielleicht auch Johannes den Täufer nun vom Hörensagen durch Jesus.

Und Hand aufs Herz: Ist das, was wir von Jesus, vom Kind in der Krippe, vom Gerechten am Kreuz, vom verschwundenen und auferstandenen Toten wissen, nicht auch „Hörensagen?

» Man erkennt und beurteilt keinen Menschen unabhängig davon, wie man sich selbst versteht. Also kann das, was über den Menschen im allgemeinen zu sagen ist, nicht unabhängig von dem sein, was man im Besonderen von sich selbst als Mensch zu wissen glaubt. Und ohne Selbstschätzung kann man auch den Wert der anderen nicht würdigen. «
Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen, 22.

Das dreimalige Hinausgehen – ein Außer-sich-sein!

Beim Hörensagen gewinnt eine Nachricht scheinbar an „Gehalt“, an „Wahrheit“, je öfter man sie hört, und auch, durch wen man sie hört. Mir gefällt in der Betrachtung des Evangeliums auf, dass Jesus das aufgreift. Dreimal fragt er die Menschen in der Menge (und ich sehe mich da mittendrin): Was habt ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Oder: Wozu seid ihr hinausgegangen? Spannende Frage für die Christmette: Was habt Ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Wozu seid Ihr hinausgegangen?

Das Gegenteil vom Hörensagen ist: Ich mache mir mein eigenes Bild! Das Hinausgehen-dürfen in Sachen Gott – und erst recht in Sachen Mensch – will ich bezeichnen als ein Außer-sich-sein! Wer aus sich hinausgeht, lässt Gewohntes, lässt Sicherheiten hinter sich, betritt Neuland und ist vielleicht ängstlich gespant, Altes und Alte neu zu sehen, Gewohntes und Geschätztes neu zu bewerten. Das gilt, wenn ich aus mir herausgehe, um mir ein Bild von Gott, vom anderen, von mir selbst zu machen! Das hat mit Gegenwart und meiner Gegenwärtigkeit zu tun, nicht mit Vergangenheit oder dem berühmten „So-auch-jetzt-und allezeit!“

Wer in diesem Sinne, bei dieser Suche außer sich ist, darf beruhigt sein; ein Sprichwort sagt, die Seele käme in drei Tagen nach – dann wären Sie wieder bei und nicht mehr außer sich. Nur anders werden Sie dann bei sich sein – da sind Sie beim Evangelisten Matthäus in guter Gesellschaft mit Hirten und Königen.

» Das Gebot der Philanthropie ist aus dem Umgang mit lebensbedrohlichen Konflikten erwachsen. Es würde daher schon in seinem ersten Auftreten unterschätzt, wollte man es lediglich nach Art einer Schön-Wetter-Empfehlung verstehen. Das gilt auch für die Wiederaufnehme des Gebots der Nächstenliebe im Neuen Testament in einem von schwersten politischen, religiösen und kulturellen Gegensätzen zerrissenen Umfeld, das die Verkünder von Philanthropie und Toleranz zugrunde zu richten sucht – freilich ohne sie dadurch widerlegen zu können. Das Selbstbewusstsein der eigenen Stärke, zumindest das der eigenen Gewissheit, gehört dazu, wenn man sich zur Philanthropie bekennt. «
Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen, 31.

Der Dienst der Kirche: Hörensagen

Kirchliches Hörensagen – Kirche und Hörensagen – Kirche als Hörensagen: Was glaube ich, was soll ich glauben, was darf ich glauben, was lehne ich ab? Wie ist das mit dem Wort vom menschgedachten, gar menschgewordenen Gott? Und: wen frage ich? Oder: Wer gibt mir ungefragt Antworten?

„So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi“, übersetzt die Einheitsübersetzung die Überzeugung des Paulus in Röm 10,17; Luther und die in seiner Nachfolge stehenden Theologen gehen noch weiter, hier gründet der Glaube in der Verkündigung oder der Predigt; irgendwie hat das ein „Gschmäckle“ – es scheint, als mache sich die Kirche selbst unverzichtbar, was den Glauben, seine Inhalte und seine Weitergabe angehen. Da steht im paulinisch-griechischen Originaltext aber nichts von Verkündigung, Botschaft oder Predigt, da steht schlicht ακουή, was mit dem „zu Hörendem“ zu übersetzen ist.

Kirche findet demnach dort statt, wo (1) Menschen nach dem menschgedachten und /oder menschgewordenen Gottoder nach dem gottgedachten und/oder gottgewollten Menschen fragen („Bist du/ist er es, der da kommen soll?“) und (2) wo gegenseitig und immer wieder vom einen auf den anderen auf ihn, Gott und Mensch (und nicht auf sich selbst) verwiesen wird. Diese ersten beiden Schritte sind nichts anderes als Hörensagen!

Der dritte Schritt ist der, der verwandeln, heilen, trösten kann: Es geht jetzt (3) um das immer wieder neue Hinausgehen aus sich selbst und auf ihn, den menschgedachten und /oder menschgewordenen Gott und den gottgedachten und/oder gottgewollten Menschen zu. Und das, um vom Hörensagen wegzukommen und um sich selbst ein Bild zu machen – man könnte den Kantschen Begriff der Aufklärung nutzen, um mündiger, ein aufgeklärter Christ zu werden: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“[2] Oder anders: Bilde Dir Dein Urteil über Gott, über den Menschen, über dich!

» Für die Humanität kann es genügen, dass eine (oder einer) sich einfach nur als Mensch erweist – und darin schätzens- und liebenswert erscheint. Die unter Beweis gestellte Humanität zieht Anerkennung, ja Achtung auf sich, vor allem dann, wenn sie sich in der Standhaftigkeit gegenüber Versuchungen und Gefährdungen behauptet. «
vgl. Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen, 32.

„Ich steh an deiner Krippe hier“ – oder: Sich ein Bild machen

Ein Letztes: „Hinausgehen“, um sich selbst ein Bild zu machen, kann im Advent zu einem Aufbruch zur Krippe werden. Sich aufmachen und schauen, ob die Botschaft vom „Philanthropen-Gott“, von einem Gott, der die Menschen „un-bedingt“ liebt auch stimme – vom Hörensagen habe ich das unerhört (!) oft gesagt bekommen, bin ich unerhört (!) oft angehalten worden, dem doch zu glauben.

Es ist dem unmündigen Christen leichter, der Leitung eines anderen – eines Kirchenmannes, einer Kirchenfrau, eines kirchlichen Buches – zu trauen, sich unmündig deren Wort, gar deren Person anzuvertrauen, als mutig und mündig sich des eigenen Verstandes, dem eigenen Sehen und Hören zu bedienen.

Ein kleiner Ausflug in die Philosophie: Philanthropie meint in der philosophischen Rede vom Menschen genau diese Menschenfreundlichkeit, die man im Christentum Gott „un-bedingt“ nachsagt. Philanthropie bezieht sich „auf ein Verhalten der Offenheit, der Zuwendung und der Anteilnahme gegenüber anwesenden Anderen“[3]  Im Unterschied dazu setzt die Humanität die Menschheit beim einzelnen Menschen in ihrer Allgemeinheit voraus. Zwar muss sie sich zeigen. Sie muss in der Lebensführung, im tätigen Eintreten für seinesgleichen und in der Rücksicht auf die Eigenart anderer Lebewesen hervortreten; dabei muss sie auch in der Gesinnung eines Menschen verankert sein. Aber sie ist nicht auf bestimmte Gefühle, Verbindlichkeiten oder Leistungen festgelegt. Für die Humanität kann es genügen, dass eine (oder einer) sich einfach nur als Mensch erweist – und darin schätzens- und liebenswert erscheint. Die unter Beweis gestellte Humanität zieht Anerkennung, ja Achtung auf sich, vor allem dann, wenn sie sich in der Standhaftigkeit gegenüber Versuchungen und Gefährdungen behauptet.“[4] Das gilt für den menschgedachten und/oder menschgewordenen Gott genauso wie für den gottgedachten und/oder gottgewollten Menschen!

Jesu Frage „Warum seid Ihr, warum bist Du hinausgegangen?“ lässt sich jetzt für die Jünger, vielleicht aber auch für Sie und für mich, leicht beantworten. In aller Ungewissheit, im Unfrieden um mich herum und in mir möchte ich mir nichts mehr „sagen lassen“ – ein herrlich doppeldeutiges Wort! Ich habe genug vom Hörensagen! Ich möchte eigensinnig und eigenmündig, selbstverantwortet und mit einem großen Maß an Offenheit auf „die Menschen“schauen und nach „dem Menschen“ suchen. Kein im Wind schwankendes Rohr, keinen fein gekleideten Palastbewohner weltlicher oder kirchlicher Zugehörigkeit, keinen Propheten dieser oder jener Richtung – sondern schlicht Menschen, die sich als Menschen erweisen, deren Humanität Anerkennung und Achtung auf sich zieht, und die darin eine Grundhaltung, eine Grundausrichtung ihres Lebens sehen. Gottgedachte und/oder gottgewollte Menschen eben! Dazu gehört auch Elend. Nacktheit und Bloßgestelltsein – zumindest besingen wir das von Jesus in der Krippe („Lobt Gott, Ihr Christen alle gleich“, GL 247, 3. Strophe) – all das darf Platz haben. Und ich glaube daran, dass ich in diesen Menschen dem menschgedachten und menschgewordenen Gott spürbar nahekomme.

Wo Menschen sich so begegnen, suchen, sich finden lassen, da stehen sie an der Krippe! Nicht vom Hörensagen, nicht, weil sie an einem Seitenaltar der Kirche für einige Wochen aufgebaut ist. Sondern weil in der Menschlichkeit von Menschen untereinander das erfahrbar wurde, erfahrbar wird, was über das Hörensagen der Botschaft und der Verkündigung leibhaftig hinausgeht: es gibt eine Menschenfreundlichkeit Gottes, es gibt eine Gottesfreundlichkeit des Menschen, und beides realisiert sich in der Menschenfreundlichkeit des Menschen, in der Haltung der Philanthropie auf die Menschheit hin und in einer gelebten Humanität im Miteinander. Halten Sie Augen auf in diesen Tagen um Weihnacht. Und nicht nur die Augen!

Amen.

Köln 08.12.2022
Harald Klein

[1] Dome und Kathedralen gab es zur Zeit Jesu noch nicht – man möge den vielleicht gar nicht so unqualifizierten Beitrag entschuldigen.

[2] Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezemberheft 1784, 481-494, hier: 481.

[3] Gerhard, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, München, 32.

[4] ebd.