03. Fastensonntag – Den inneren Goldklumpen freilegen – „Ich möchte…“ statt „Du sollst…“

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Positionierung und Polarisierung

Sie kennen Erich Maria Remarque? Der 1970 in der Schweiz verstorbene Schriftsteller setzte sich in seinen Romanen mit der Frage nach dem Pazifismus auseinander. Sein „Im Westen nichts Neues“ aus dem Jahr 1929 wendet den pazifistischen Blick zurück auf den Ersten Weltkrieg und richtet ihn zugleich nach vorn auf das Erstarken des Nationalsozialismus. Pazifismus – Leben und Einsatz für den Frieden, für nichtverletzendes Handeln, gegen den Krieg, das könnte auch über den Lesungen und dem Evangelium des heutigen Sonntags stehen.

Die erste Lesung erzählt von den sog. „Zehn Geboten“, Sie hören sicher sofort das herrische „Du sollst“ – die Folge: Sie ducken sich schnell weg, zumindest rufen Sie sicher nicht laut „Hier!“

Die zweite Lesung positioniert das Christentum: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten; für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Wenn diese Positionierung des „Die“ und „Wir“ nicht nach Ärger und (Klein-) Krieg riecht, wenn hier nicht Positionierung und Polarisierung Hand in Hand gehen, weiß ich es nicht. Zumindest klingt es nicht nach Religionsfrieden, oder?

Das Evangelium schildert dann Jesus mit der Geißel aus Stricken, der im Tempel so richtig aufräumt – er hat in meiner Vorstellung ein wenig von John Rambo oder von vom gegen die Orks in deren Höhle kämpfenden Zauberer Gandalf aus dem „Herrn der Ringe“ – irgendeine Vorstellung braucht man doch, um sich die Szene auszumalen oder gut ignatianisch um sich die Bühne zu bereiten.

» Es sind nicht in erster Linie unsere Überzeugungen und moralischen Ansprüche, die uns zu einem besseren Mitmenschen machen. Es ist eher die Bereitschaft, achtsam auf unser Herz zu hören und mitfühlend innezuhalten. Eine aufgeschlossene, achtsame Haltung wertet unseren Alltag auf. «
Mannschatz, Marie (2019): Vollkommen unvollkommen. Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen, München, 115.

Die Sprache macht’s, oder: „Du wirst nicht…“

Ehrlich gesagt, geht es mir mit den zehn Geboten, wie ich sie als Kind im Kommunionunterricht gelernt habe, mit diesen Polarisierungen, und auch mit der Prügelszene im Tempel nicht gut. Es braucht einen zweiten, tieferen Blick, aber dann gewinnen diese Texte die Kraft, Ihr Herz zu berühren.

Da ist zuerst die Lesung aus dem Buch Exodus, die Übergabe der Zehn Gebote an Mose. Als Cecile de Mille 1956 den mehr als drei Stunden dauernden gleichnamigen Film drehte, war es sicher nicht leicht zu entscheiden, wie denn die Übergabe der Gebote Gottes an Mose auf dem Berg Sinai filmisch umgesetzt werden sollte. Vielleicht kennen Sie es: Zehnmal schlägt der Blitz in Steintafeln, die Mose hochhält, die Gebote sind von Anfang an filmisch in Stein gemeißelt.

In der Kinderbeichte damals vor der Erstkommunion konnte man sich an ihnen abarbeiten, und irgendwie gehört im Herr-Knecht-Verhältnis des Buches Exodus und im Beichtgeschehen in den späten 60er Jahren die Angst dazu, dass der „Herr“ dem „Knecht“ (bzw. der „Magd“) eins mit der Steintafel überziehen wird, wenn die Gebote nicht befolgt werden. Das ist doch das Wesen von „Geboten“ – sie sagen, was zu tun ist; in unserer Übersetzung sind jedoch nur vier wirkliche Gebote dabei, die anderen sechs sind Verbote – sie sagen, was zu unterlassen ist. „Du sollst Vater und Mutter ehren“ auf der einen Seite, und „Du sollst nicht stehlen“ auf der anderen Seite, um ein Beispiel zu geben. Diese Lesart macht Angst, zeigt mir mein Ungenügen, lässt mich nur klein vor dem großen Gott, unwürdig als Knecht gegenüber dem allmächtigen Herrn sein.

Die Sprache macht’s. Sie wissen vielleicht, dass die „Zehn Gebote“ eigentlich „Zehn Worte“ heißen, das wäre die Übersetzung des griechischen Wortes „Dekalog“. Sie wissen vielleicht auch, dass dieser Dekalog beginnt mit „Ich bin der Herr, Dein Gott“ – als könnte man das vergessen, wohingegen der Nachsatz oft vergessen wird: „Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat.“ Spannend, wer aus den „Worten“ wohl „Gebote“ gemacht hat, und warum! Es gilt: Zuerst die Erfahrung der Befreiung, und daraus folgt dann (vielleicht) ein Verhalten, das die Zehn Worte beschreiben. Bitte nicht Ursache und Wirkung verwechseln: Zuerst die Erfahrung der Befreiung, und als Antwort darauf ein befreites und befreiendes, Freiheit gewährendes Leben. Sie können sich die Befreiung nicht verdienen!

Und ein Zweites: Die wörtliche Übersetzung der hebräischen Formulierung ist nicht „Dies und das sollst Du nicht!“, sondern wörtlich übersetzt steht im hebräischen Text dort: „Das wirst Du nicht tun!“ Nicht „Du sollst nicht lügen!“, sondern „Du wirst nicht lügen!“, und warum? Weil Gott, der Herr, der Befreier aus dem Sklavenhaus, Dein Herr ist. Und Dich schon befreit hat.

» Wir brauchen ein natürliches Empfinden in unserem Herzen, das uns anzeigt, wann wir Grenzen überschreiten. Scham erfüllt für uns diese Aufgabe. Wir tragen alle ein Wissen über Grenzen im Miteinander in uns, aber wir haben verlernt, auf das Schamgefühl zu hören, das uns daran erinnert. «
Mannschatz, Marie (2019): Vollkommen unvollkommen. Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen, München, 141.

Die Sprache macht’s, oder: „Herr“ und „Knecht“

Die Sprache macht’s. In einer postmodernen Zeit ist es für Lesende oder Hörende eine Zumutung, mit archaischenoder feudalen Vokabeln wie Herr, Knecht, Gebote (zumindest in Sachen Lebensführung) und Gehorsam den Geboten und den Herren gegenüber zugeballert zu werden. Ich möchte mir von niemandem sagen lassen, was ich zu tun oder zu lassen habe, und ich halte mich – wie wohl die meistens Altersgenossinnen und -genossen – für in der Lage, selbst und verantwortlich entscheiden zu können, was gut und was schlecht ist, was zu tun und was zu unterlassen förderlich ist, mir und anderen gegenüber.

In Leo Tolstois Erzählung „Herr und Knecht“ von 1895 wird dieses Verhältnis beschrieben, es verändert sich und nimmt beinahe christologische Züge an. Der Grundstückseigentümer Wassilij reist mit seinem Knecht Nikita bei Schneegestöber durch die Steppe. Sie verirren sich und drohen zu erfrieren. Die bisher beschriebenen Standesunterschiede heben sich mehr oder weniger auf, vor dem drohenden Tod sind alle gleich. Wassilij will sich retten, verlässt Nikita und nimmt dessen drohenden Tod in Kauf. Er verläuft sich einige Male, kommt dann zurück an den Ort, wo Nikita im Schnee liegt. Dann Tolstois großes Thema: Das einzige und wahre Glück ist es, für andre leben zu dürfen und gelebt zu haben. Wassilij, der Herr, deckt Nikita, den Knecht, mit seinem Körper, um ihn in dieser Nacht durch seine Wärme am Leben zu halten, und erfriert in dieser Nacht. Eine moderne Übersetzung von Paulus‘ Wort: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten; für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“

Sie können das „Ich bin der Herr, Dein Gott, …“ nur gut weiterhören mit dem Nachsatz „…der Dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat.“ Sie sollten das Verhältnis „Knecht/Magd – Herr“ weder archaisch nicht feudal hören, eher im tolstoi‘schen Sinne: Gottes Glück ist es, für uns Menschen leben zu dürfen und uns am Leben zu halten, ins Leben zu führen. Die Kunst ist es, nicht zu glauben, dass, wenn Sie die „Gebote“ (besser: die Worte) halten, Ihnen diese Führung aus dem Sklavenhaus und diese Führung ins Leben, das Halten im Leben geschenkt wird. Falsch! Richtig ist, dass Sie schon lange wissen, was „geboten“ ist, um gut mit sich selbst und mit anderen zu leben, und dass Sie im besten Falle Gefährtinnen und Gefährten um sich haben, die sie immer wieder dran erinnern und mit denen Sie dieses Leben in vollen Zügen genießen dürfen. Darin können Sie Gottes Führung, Fügung und Halten erkennen, Gottes Geist in sich am Werk glauben.

» Er aber meinte
den Tempel seines Leibes. «
Joh 2,21

Die Sprache macht’s, oder: „Raus damit!“

Bleiben das Evangelium und die Tempelreinigung. Da möchte ich es kurz machen. Es braucht eine Kraft, einen Geist, für uns Christen: einen Christus in mir, der mir hilft, aus dem Tempel meines Leibes – „Leib“ steht für „Lebensvollzug“ – alles zu nehmen, was mich am Leben hindert, was mir mein Leben schwer macht und was es mir schwer macht, mit anderen befreit zu leben. Meist geht es da um Haltungen, weniger um Taten. Das kann ein gieriges Verlangen sein, eine Abwehr aus Widerwillen, eine Verweigerung der Wirklichkeit, wie sie ist. Im Buddhismus sind fünf „Silas“, fünf Empfehlungen für ein friedliches Zusammenleben mit anderen und mit mir selbst gesammelt, die in dieser Religion mit unseren „Zehn Worten“ zu vergleichen sind. Sie lauten:

  1. Ich möchte üben, alles Leben zu schützen. Ich will keine Lebewesen töten oder verletzen.
  2. Ich möchte üben, großzügig zu sein, um andere zu unterstützen und nicht zu nehmen, was mir nicht gehört.
  3. Ich möchte üben, die Beziehungen meiner Mitmenschen zu respektieren, und ihnen helfen, ihr Glück zu bewahren. Ich möchte durch mein sexuelles Verhalten niemandem schaden.
  4. Ich möchte üben, mit Worten nicht zu verletzen und nur das zu sagen, was wahr und hilfreich ist.
  5. Ich möchte üben, mein Bewusstsein nicht durch den Konsum von Alkohol oder Drogen zu benebeln. Alles, was ich geistig oder körperlich zu mir nehme, soll mir helfen, klarer und wacher zu werden.[1]

Lesen, hören, spüren Sie den Unterschied zu unseren religiös beinahe verbrämten „Geboten“? Hier fordert nicht ein „Herr“, was ich soll oder nicht soll; hier spricht ein Mensch, eine Person (auch kein „Knecht“, keine „Magd“), was er, was sie „möchte“, weil er, weil sie es gut, förderlich für ein friedliches Zusammenleben ansieht. Das nichtverletzende Handeln, was hier ausgedrückt wird, ist dem Buddhismus eingeschrieben, sowohl im Blick auf andere als auch auf anderes als auch auf sich selbst. Der Weg dahin ist ein Weg des Übens, nicht des Abhakens, es geht um ein inneres Wachsen in dieser Haltung, nicht um Bewerten von gutem und schlechtem Handeln.

Die Tempelreinigung erzählt äußerlich, was innerlich zu tun ist: Raus damit – Loslassen und Abgeben von allem, was dem Leben, dem nichtverletzenden Handeln schadet. „Er aber meinte den Tempel seines Leibes“ (Joh 2,21) – ich lege Ihnen und mir den „Tempel des Leibes“ besonders ans Herz, das „Du wirst nicht“ anstelle des „Du sollst/Du sollst nicht“, das tolstoi’sche Verständnis vom „Herrn“ und die Empfehlungen zur Tempelreinigung. Im Westen, aus dem Westen nichts Neues? Vielleicht doch! Haben Sie eine gute Zeit.

Amen.

Köln 05.02.2021
Harald Klein

[1] vgl. Mannschatz, Marie (2019): Vollkommen unvollkommen. Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen, München, 116f