Dritter Fastensonntag: Die Maßeinheit des Vertikalen

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Theologische vs. geographische Orte

Der dritte Sonntag der Fastenzeit hat einen dritten Ort, an dem Jesus in der Erzählung aus dem Evangelium auftritt. Nach der Wüste, dem Ort der Versuchung, und dem Berg Tabor, dem Berg der Verklärung – die ja auch eine Spielart von Versuchung ist, geht es heute um den Tempel, genauer, um die Tempelreinigung. Und wieder, wie an den beiden vergangenen Sonntagen, kannst Du das Evangelium „geographisch“ verorten, irgendwo in Jerusalem am Tempelberg, oder Du kannst es „theologisch“, als den Tempel in Dir, deuten. Das hat seinen Ort im Gottesdienst. Leider erst bei der Feier der kirchlichen Beisetzung wird Weihrauch über den Sarg geschwenkt und dazu gesprochen: „Dein Leib war Gottes Tempel. Der Herr schenke Dir ewige Freude.“ Das gilt ja nicht erst ab dem Moment des Sterbens, das ist über Deinem Leben ausgesprochen, und es ist ausgesprochen gut: „Dein Leib ist Gottes Tempel. Der Herr schenke Dir ewige Freude.“

Wie Du aus den vorangegangenen Predigten schon weißt, liegt mir mehr an der „theologischen“ als an der „geographischen“ Deutung. Und ich möchte in dieser Fasten- und Osterzeit gerne das Empfinden und Erleben des Dichters Rainer Maria Rilke (1875-1926) mit in diese Deutungen einfließen lassen – als Beleg dafür, dass Menschen das, was Jesus erfahren und erlebt hat, auch heute erfahren und erleben können.

» Schafft das hier weg,
macht das Haus meines Vaters
nicht zu einer Markthalle. «
Joh 2,16

Die Tempelreinigung

Das Evangelium ist in seinem ersten Teil – und um den geht es mir – schnell nacherzählt. Jesus geht in den Jerusalemer Tempel und findet darin Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben vor, auch Geldwechsler, die dafür sorgen, dass man in der geltenden Währung die Opfertiere kaufen kann. Er macht aus Stricken eine Geißel und treibt sie alle aus dem Tempel heraus, samt den Schafen und den Rindern, das Geld schüttet er aus, die Tische stürzt er um, und zu den Taubenhändlern sagt er: “Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle.“ Es steht im griechischen Urtext wahrhaftig ειπεν da, das Verb, das ein ruhiges Sprechen in einer Unterhaltung meint. Stimmen die Bilder, die das Evangelium in Deinem Kopf erzeugen, mit dieser Sprache und der Sprachmelodie, die das Evangelium wohl begleiten, für Dich überein? Ich tue mich schwer damit.

Und doch: diese fehlende Kongruenz zwischen Tun und Sprache gilt nur dann, wenn Du das Evangelium „geographisch“ deuten möchtest. Es könnte anders sein, wenn es um den „Tempel Deines Leibes“ und um dessen Reinigung geht. Das überlasse ich aber Deiner Fantasie.

» Sie glauben nicht, wie sehr die Landschaft verändert ist, seit sie diese große Maßeinheit des Vertikalen verloren hat; sie ist wie ins Flache eingestürzt «
Rilke, Rainer Maria (1977): Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, 2 Bde., Hrsg. von Ritus Lutz, Frankfurt/Main, Bd. 2., 1032.

Rilke und die Maßeinheit des Vertikalen

Auf diesen „Tempel Deines Leibes“ möchte ich Deinen Blick richten, und ich brauche dazu einen Umweg über ein Erleben, das Rainer Maria Rilke in einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart (1878-1962), eine seiner engsten Vertrauten, festgehalten hat. Von 1921 bis zu seinem Tod lebte er in einem Wohnturm in Muzot, im Wallis (Schweiz). Im Jahr 1924, nach dem Fällen einer Pappel in Muzot, schreibt Rilke, dann ergänzt von Gunnar Decker: „‘Sie glauben nicht, wie sehr die Landschaft verändert ist, seit sie diese große Maßeinheit des Vertikalen verloren hat; sie ist wie ins Flache eingestürzt.‘ Es gibt Menschen, die das sofort verstehen, und andere, die es niemals verstehen. Rilke fürchtet, dass die Nichtversteher immer mehr werden, ein missverstandener Fortschritt, der der Welt ihren letzten Rest an Poesie raubt. Alles wird immer hässlicher, immer sinnloser auch. Wie soll Rilke, den gefällten Baum vor Augen, der nun achtlos am Wegrand liegt (er kann nur mit abgewendetem Blick an ihm vorübergehen) die lähmende Dunkelheit in sich überwinden?“[1]

Die große „Maßeinheit des Vertikalen“ ist verloren. Was für ein Wort. Zum einen wird es das sein, was Jesus im Tempel erlebt hat – nicht die Ausrichtung auf die „Vertikale“ gibt hier den Ton an, sondern die Horizontale, die Verkäufer von Rindern, Schafen, Tauben und die Geldwechsler. Zum anderen – und jetzt die sogenannte Bußzeit ins Spiel – geht es um die Frage nach der „Maßeinheit der Vertikalen“ in Deinem und in meinem Leben, im „Tempel Deines Leibes“. Da hat aber auch wirklich alles aus dem Zitat von Gunnar Decker seinen Ort, zumindest in der Möglichkeit, wahrscheinlich aber im Erleben: eingestürzt ins Flache, Unverständnis, missverstandener Fortschritt, ein geraubter Rest an Poesie, achtlos am Wegesrand liegend, mit lähmender Dunkelheit ringend.

Wenn das so ist, dann tut es gut Jesus nur sagen zu hören: “Schaff das hier weg, mach das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle.“ Die Geißel gilt dem Müll, nicht mir, dem Dreck, nicht Dir; die Stimme lockt mehr, als sie kritisiert und verurteilt. Wie am Aschermittwoch: es geht mehr um ein „hin…zu“ („Dein Leib ist/sei/werde Tempel Gottes“) und weniger um ein „von…weg“ (Leib und Leben als „Markthalle“). In der Bewegung auf das eine hin rückt das andere in den Hintergrund. Drei Tage, sagt Jesus, und der Tempel ist wieder aufgerichtet. In Rilkes Sprache: Lass nicht zu, dass Deine Maßeinheit des Vertikalen gefällt am Wegesrand liegt – und liegen bleibt. In drei Tagen…

Amen.

Köln, 29.02.2024
Harald Klein

[1] Decker, Gunnar (2023): Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie, München, 483 – zitiert ist hier aus Luck, Rätus (1977): Rilke, Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, 2 Bde., Frankfurt/Main, Bd. 2., 1032.