Ein Versprecher mit Folgen
Man sagt, wenn der Prediger die Predigt mit „Neulich…“ beginnt, solle man weghören, denn das danach Folgende habe ja doch nie stattgefunden. Springen Sie mal über Ihren Schatten, wenn Sie dem zustimmen. Folgendes geschah „neulich“ in einer Abendmesse:
Weil wegen Corona so gut wie nicht gesungen werden darf, wurde das „Halleluja“ vor dem Evangelium von der Kantorin angestimmt, der Vers aber gebetet. Und vorgetragen wurde: „Selig, die sehen, und doch glauben“ aus dem Evangelium mit dem verzweifelten Thomas vom letzten Sonntag! Und sofort merkte die Lektorin den Fehler und korrigierte sich, denn natürlich muss es heißen: „Selig, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,29b).
Ob es jemand vor der Korrektur gemerkt hatte? Ich jedenfalls erst, als sie sich korrigierte – und mir kam sofort: Was für ein Satz! „Selig, die sehen, und doch glauben.“ Gehen Sie dem Satz doch mal nach.
Sehen Sie mal nach auf der Seite www.katholisch.de, der Seite der Deutschen Bischofskonferenz, und lesen Sie die Themen, die dort verhandelt werden – „Selig, die sehen und doch glauben!“
Sehen Sie mal nach auf der Seite des Amtsgerichts Köln unter dem Stichwort „Kirchenaustritt“ und versuchen Sie, einen Termin zu bekommen. Bis zum 30. Juni sind alle Termine vergeben, und weiter geht der Kalender dort noch nicht – „Selig, die sehen und doch glauben!“
Sehen Sie sich einmal um in den Kreisen, in denen Sie ihr Christsein leben, und fragen Sie sich, ob Sie meine Beobachtung teilen können: Was am eigenen Leib nicht gelingt, geschieht am Leib Christi, in der Kirche wie von selbst – er nimmt ab, und wie! Auch hier – „Selig, die sehen und doch glauben!“
Sehen Sie mal in die Gottesdienste, die Andachten, die Prozessionen, auf all das, was dem Katholizismus Sichtbarkeit verleiht und von dem die Theologie sagt, es sei „Quelle und Höhepunkt“ christlichen Lebens. Der Lehre der Theologie folgt die Leere der Kirchen und ihrer Vollzüge (nicht die Leere während der Vollzüge, die ist augenfällig, aber die Leere in den Vollzügen, die vielen Menschen nichts mehr sagen). Vor allem überall da ist Leere, wo schwerpunktmäßig „Lehre“ sich behaupten will – „Selig, die sehen, und doch glauben!“
Die Menschen sind ja noch da, nur halt anderswo!
Es mag ja stimmen, dass vor allem die Corona-Regeln dafür sorgten, dass die Kirchen schlagartig leerer werden, aber ganz ehrlich: ohne Corona hätten wir die Zahlen – oder besser: die Leere – dann halt zwei oder fünf Jahre später gehabt. Bei den Überlegungen der Liturgiker, was geschehen müsse, damit die Menschen „nach Corona wieder zurückkommen“, möchte ich mich im wahrsten Sinne des Wortes um Gottes willen nicht beteiligen. Die Menschen sind ja noch da, nur halt anderswo. Man muss ja nicht nur auf die Leere in den Kirchen schauen und feststellen, dass es unsere Aufgabe sei, die Menschen zurückzuholen, damit die Leere in der Kirche gefüllt werde. Es wäre durchaus bemerkenswert, die Menschen da „Draußen vor der Tür“ zu fragen, ob sie denn eine Leere verspüren, die wir einander zu füllen suchen. Ich glaube nicht, dass im Reich Gottes die Unterscheidung „Kirchenbesucher“ – „Nicht-Kirchenbesucher“ gilt, sondern eher „Mensch“ – „Unmensch“, „arm“ (an was auch immer) – „reich“ (an was auch immer), und die Bedürftigkeit, das Angewiesen-Sein auf andere, das Erleben von Freude und Hoffnung, Trauer und Angst eint uns alle. Die Menschen sind ja noch da, nur halt anderswo.
„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“
Der Philosoph und Physiker Heinz von Foerster prägte 1998 mit diesem Buchtitel eine Wahrheit des Konstruktivismus. Das, was wir sehen, ist eine „Form“, und erst unsere Deutung macht diese „Form“ zu einer „Wahrheit“, die dann eben „unsere Wahrheit“ ist. Im Dialog können wir unsere „Wahrheiten“ nebeneinanderstellen, vergleichen, im besten Fall stimmen sie überein und weiten sich gegenseitig.
So können die leeren Kirchen zur Klage führen, dass den Menschen der Glaube (vielleicht besser: die Lehre) nichts mehr zu sagen hat. Das ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist, dass wir Christen der Welt und den Menschen „Draußen vor der Tür“ scheinbar nichts mehr zu sagen haben. Die eine Wahrheit versucht, die Menschen in die leere Kirche zurückzuholen, die andere Wahrheit macht Lust, unseren Glauben in der „Sprache“ der Menschen draußen vor der Tür zu verkünden. Das muss ich halt lernen, mir Lehrmeister suchen, und vieles einfach neu durchbuchstabieren.
„Der Oberst“ im Borcherts „Draußen vor der Tür“
In Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ besucht der Kriegsheimkehrer Beckmann „seinen“ ehemaligen Oberst, der Beckmann in Kriegszeiten mit einer Gruppe von 20 Soldaten zur Erkundung schickte. Elf davon kamen um, und Beckmann kann mit dieser Schuld nicht leben. Er sieht die Situation immer wieder vor sich. Von „Selig, die sehen, und doch glauben!“ kann hier keine Rede sein. Beckmann will den Oberst zu Rede stellen, der von jeder Schuld am Tode der Soldaten absieht. Der sieht von jeder Schuld bei sich ab! Er sitzt beim Essen und empfängt Beckmann unhöflich und befehlerisch: „Sie stören beim Abendessen! Ist Ihre Angelegenheit so wichtig?“ Auf die Vorwürfe Beckmanns, er säße da mit einem neuen Hemd im Sessel, ohne auch nur einen Gedanken an seine Schuld zu verschwenden, weicht der Oberst aus, versucht, das Thema zu umgehen und spricht Beckmann auf seine „komische Frisur“ und seine „komische Brille“ an – der Oberst in seinem elfenbeinernen Turm im Disput mit dem Kriegsheimkehrer Beckmann, dessen Heimat nur noch „Draußen vor der Tür“ ist. Die Wahrheiten dessen was war, was ist und sicher auch, was sein kann und sein wird, sind nicht kompatibel. Der Oberst ist nicht in der Lage, mit Beckmanns Augen zu sehen – und schon sind es zwei Wahrheiten, die hier zu erkennen sind. Und zwar nicht kompatible Wahrheiten – im Sinne Heinz von Foersters –, wie ich sie tagtäglich zwischen denen „in den leeren Kirchen“ und denen „draußen vor der Tür“ erlebe.
„Was seid Ihr so bestürzt?“
Mit wenig Fantasie kann es gelingen, aus dem Wohnzimmer des Obersts das Obergemach der Jünger machen. Statt des Obersts und seiner Frau setzten Sie mal die elf Jünger samt den beiden Emmausjüngern ein, und die Rolle des Beckmann übernimmt der auferstandene Jesus. Beckmann gelingt es nicht, seine „Wahrheit“ mit dem Oberst zu teilen. Jesus gelingt das eindrücklich – er spricht die Sinne der Jünger an. Sie hören ihn („Friede sei mit Euch“), er lenkt ihre Augen auf seine durchbohrten Hände und Füße („Seht meine Hände und Füße an, ich bin es selbst“), er macht sich „angreifbar“ („Fasst mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen“) – und er bittet um etwas zu essen, er ist mit ihnen und isst mit ihnen.
Der Ort der Kirche ist draußen vor der Tür!
Jesus selbst, der Auferstandene, wird denen Lehrmeister, die neugierig auf die Wahrheit vor der Kirchentür sind. Hier geht es weniger um ein Bücherwissen als um den Einsatz aller Sinne, um gut gewählte Worte; um achtsame und sensible Weisen der Begegnung und Berührung; um den Mut, die eigenen Wunden und Verwundungen zu zeigen in der Hoffnung, dass die gesehen, gewürdigt, geheilt werden; um das Abenteuer, sich angreifbar zu machen und neugierig zu erwarten, was geschieht. Und es geht um Mahlgemeinschaft, die keinerlei Zulassungsbedingungen kennt.
Das wäre doch ein Fortschritt, oder? Wie gesagt: Die Menschen ja noch da, nur halt anderswo! An diesem Ort könnte Glaube Freude machen – und wäre der Ort dann nicht Kirche?
Amen.
Köln 16.04.2021
Harald Klein