Von Wegen…
Martin Heidegger (1889-1976) ist der Philosoph der Wege! Die Metapher des „Weges“ durchzieht seine Werke, er schreibt über Wegmarken, über Holz- und über Feldwege, über Abwege und über neue Wege. Auf dem Weg sich befindend, half ihm persönlich dieses Unterwegssein und Auf-dem-Weg-Sein zum Lösen der Rätsel, die sich ihm stellten.
Es wäre ein Leichtes, zum 06. Januar noch einmal einen RÜCK-Blick auf die „Wege“ des vergangenen Jahres zu wagen, die Du gegangen bist, gleich, ob Holz- oder Feldwege, Ab oder Auswege, zielführende oder wegführende Wege. Es wäre ebenso ein Leichtes, das gleiche für einen VORAUS-Blick in das gerade begonnene Jahr. Lohnender und lehrreicher könnte es sein, einen EIN-Blick in die Wege der drei Sterndeuter zu wagen: Welche Wege haben sie zusammengeführt, welchem Stern sind sie gefolgt, was hat sie geeint, wem sind sie begegnet, was haben sie gelernt, wie und auf was hin haben ihre Wege sie verändert?
Der Weg der Mythen
In diesen Tagen der Mythen, ganz gleich welcher Art, ist jedes historisierende Fragen daneben und nicht zielführend. Es geht um die Mythen dieser Tage, um das, was niemals war und immer ist, wie es der römische Geschichtsschreiber Sallust im 1. Jhdt. v.Chr. beschrieben hat.
M.a.W.: Es geht nicht um Wege, die konkrete Menschen jemals gegangen sind. Es geht um Wege, die Menschen immer und immer wieder gehen, einfach, weil sie Menschen sind, und weil diese Wege den Menschen zugehörig sind. Wege, die niemals waren und immer sind. Du darfst Dich auf diese Weise als „vierter König“[1] fühlen, den Edzard Schaper 1961 in seiner Legende beschrieb. Da macht sich aus Russland ein junger König auf, um dem neugeborenen König Geschenke zu bringen. Er braucht aber drei Jahrzehnte für seinen Weg, weil er immer wieder bleibt, um Menschen in Not zu helfen, und kommt gerade noch rechtzeitig, um den Gekreuzigten auf Golgotha zu sehen.
Einen Vers aus dem Mythos des Deutero-Jesaja, der heute in der Lesung gelesen wird, sollen über diesen mythischen Wegen stehen: „Denn siehe, Finsternis bedeckte die Erde und Dunkel die Völker, doch über Dir geht strahlend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über Dir“ (Jes 60,2). Das halte im Kopf und im Herzen!
Von wegen huldigen!
Weggefährten kennt auch Salman Rushdie in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 22.10.2023 in der Frankfurter Paulskirche. Er beginnt seine Rede mit der Geschichte zweier Schakale namens „Karaktaka, was sich mit Vorsicht übersetzen lässt, und Damanaka, was Wagemut bedeutet.“[2] Sie gehören in das Gefolge eines Löwenkönigs, der eines Tages unter dem Gebrüll eines entlaufenen Bullen erschrickt. Die beiden Schakale schmieden einen miesen Plan: Sie gehen zum Bullen, bitten ihn, sie zum Löwenkönig zu begleiten und ihm die Freundschaft anzubieten. Als das Rudel um den König dann Hunger litt, weil Löwe und Bulle die Nahrungssuche über ihre Gespräche vergessen, reden die Schakale dem Löwenkönig ein, der Bulle schmiede dunkle Pläne gegen ihn; dem Bullen sagen sie, der Löwenkönig plane, ihn zu töten. So kämpfen beide gegeneinander, der Bulle wird getötet. Rushdie endet die Geschichte mit den Worten: „Für alle gab es jede Menge Fleisch zu essen, und die Schakale stiegen noch höher in der Gunst des Königs, denn sie hatten ihn vor den Machenschaften des Bullen gewarnt; sie stiegen aber auch im Ansehen aller übrigen Waldbewohner – natürlich nicht in dem des armen Bullen, doch das machte nichts, denn er war ja tot und versorgte jedermann mit einem köstlichen Mahl.“[3] Im Panchatantra, einer Fabelsammlung aus dem alten Indien, ist diese Geschichte betitelt mit „Wie man Zwietracht unter Freunden sät“. Von wegen Freundschaft, kannst du sagen, zu Recht – um Zwietracht geht es. Und von Wegen wird hier – mythisch, was niemals war und immer ist – erzählt, die Zwietracht erwecken, von Wegen, die in den Tod führen.
Wieder zeigt sich, dass „Eigenschaften, die […] zu den Tugenden zählen, je nach Blickwinkel und Auswirkung auf die reale Welt zu Lastern werden können“[4] oder „dass die Freiheit eine gleich starke und widersetzliche Reaktion der Kräfte der Unfreiheit provozieren kann.“[5]
Wer die Geschichte der Sterndeuter im Matthäus-Evangelium kennt, weiß, dass auch dort ein „Löwenkönig“ auftaucht, der erschrickt, als er die Botschaft vom neugeborenen König hört. König Herodes nimmt die pilgernden Sterndeuter auf, erkundigt sich nach deren „Wissen“, zittert um sein Haus und seine Macht, schickt die Sterndeuter nach Bethlehem – wie die Schakale zum Bullen gingen – und erwartet von ihnen auf dem Rückweg Meldung, wo das Kind zu finden sei. Er wolle schließlich hingehen und ihm huldigen! Aber die, diese mythische Erzählung kennen, die wissen: von wegen huldigen…
„Eine Straße ist kein Haus.“
An der Krippe angekommen, die Geschenke dem Kinde lassend – wie der vierte König, nur anders! – denken sie im Traum und dank des Traumes nicht mal daran, den gleichen Weg und zu Herodes zurückzugehen, sondern ziehen auf einem anderen Weg heim in ihr Land (man beachte den Singular; Mythos halt: was niemals war und immer ist)!
Wenn Du magst, nimm Dir ein Blatt Papier und sammle die mythischen Elemente aus dieser Erzählung, aus diesen zwölf Versen bei Matthäus. Da sind die umherziehenden und unbehausten Sterndeuter oder Magier (von „Königen“ ist in der Schrift keine Rede, auch das wäre ein Nachdenken wert). Da ist der „Löwenkönig“ Herodes, voller Angst, Haus und Macht zu verlieren und nur heimlich und lügend falsche Kunde gebend; da ist der Stern, der nur in der Nacht, vielleicht auch nur in Deiner Nacht, sich zeigt; da ist das unbedeutende Bethlehem im Gebiet von Juda, aus dem Großes, aus dem ein Großer oder sogar der Größte hervorgeht; da ist der Traum, der – wie der Stern – seine Wirklichkeit in der Nacht hat, tags aber innerlich zu leuchten und zu führen vermag; und da ist der Weg „heim in ihr Land“.
Da ist sie wieder, Heideggers Weg-Metapher: Die Metapher vom Fluss gilt auch vom Weg. Du kannst niemals in den gleichen Fluss springen, und Du kannst niemals den gleichen Weg zweimal gehen. Entweder ist der Weg verändert, oder Du bist es. Hubertus Halbfas fasst den ganzen Mythos der drei Sterndeuter in seiner Gebetsschule[6] in einen ganz knappen Satz: „Wenn du nach Gott fragen willst, lerne zu fragen. Fragen ist schwerer als antworten. […] Vertrau auf Dich und wage zu fragen. Das führt Dich ins Weite. Religion ist eine Straße zu Gott. Eine Straße ist kein Haus.“[7]
Religion ist eine Straße zu Gott. Eine Straße ist kein Haus! Die Sterndeuter haben das verstanden. Die Hirten, die von der Krippe zurückkehrten auf ihr Feld, haben es verstanden, und auch Josef und Maria mit ihrer Flucht nach Ägypten. Alles mythische Erzählungen, die niemals waren und immer sind.
Religion: Um Wege sollte es ihr gehen, die oft Umwege sind, Abwege, Holzwege, eher Feldwege als Highways, eher in der Finsternis liegend und vom Dunkel bedeckt, Wege wie Völker, wie es Deutero-Jesaja im Vers aus der Lesung beschreibt. Aber nur die, die den freien Himmel über sich haben und keine Palast- (oder vielleicht auch Kirchen-) Decken, nur die können die Herrlichkeit sehen und von ihr berührt werden, wenn der Herr strahlend über ihnen aufgeht.
Dass Dir, dass uns der Himmel offenbleibe und wir von unseren Träumen geführt immer wieder andere Wege einschlagen, um nicht bei den „Löwenkönigen“ und den „Schakalen“ unterzukommen, das wünsche ich Dir und uns. Denke daran: es war niemals und ist immer.
Amen.
Köln, 05.01.2024
Harald Klein
[1] Schaper, Edzard (2012): Die Legende vom vierten König, Zürich.
[2] vgl. Rushdie, Salman (2023): Wäre der Frieden ein Preis. Dankesrede anlässlich der Übergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Text und Seitenzahlen beziehen sich auf den Sonderdruck des Börsenblattes des Deutschen Buchhandels, Frankfurt/Main, 24-26.
[3] a.a.O., 25f.
[4] a.a.O., 31.
[5] ebd.
[6] Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf.
[7] ebd. 74.