Verw:ortet 05/2024: Teun Toebes – Der 21-jährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet

  • Worte, auf denen ich stehe
  • –   
  • –   

Um was es geht

Der 15.Februar war in diesem Jahr der Donnerstag nach Aschermittwoch, ich bin mir sicher, dass das ZDF diesen Umstand nicht im Blick hatte, als es in seiner Reihe „plan b – es geht auch anders“ (oder auch: „Von ‚Sagen, was ist‘ zu ‚Sagen, was geht!‘)[1] – eine Art „tele-visionären“ Fastenzeitkalender zu eröffnen. Das wollte das ZDF sicher nicht, für mich hat es genau dies getan. Danke dafür.

In knapp 30 Minuten[2] werden in der Sendung zwei Menschen mit dem vorgestellt, was sie für die Arbeit mit Menschen im Pflegeheim brennen lässt. Der eine ist der mittlerweile im Ruhestand lebende Pflegedienstleiter des Hauses Ruhrblick, Oskar Dierbach, der seine Vision eines ausgeklügeltes Motivations- und damit verbundenes Bewegungstraining für seine Einrichtung in die Tat umgesetzt hat. „Wir pflegen unsere Heimbewohner aus den Betten raus“, heißt es im Begleittext zur Sendung über neue Wege in der Altenpflege. Auf ihn, auf sein Arbeiten, sein Team, seine Ideen kann ich hier nicht weiter eingehen.

Für dieses „verw:ortet“ möchte ich Dir den zweiten Visionär, möchte ich Dir Teun Toebes vorstellen. Visionär – nichts anderes ist er für mich, und das mit 25 Jahren! Nach einer Ausbildung zum Altenpfleger und einem Studium der Pflegepolitik hat ihn die Frage, wie er selbst einmal als alter und vielleicht pflegebedürftiger Mensch leben möchte, zum Aktivisten und Kämpfer für eine menschlichere Pflege in den Niederlanden eingesetzt. Die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern, ist sein erklärtes Lebensziel, ist seine Mission, wie er selbst sagt. Er wird sein einigen Jahren als Speaker bei Pflegekongressen und darüber hinaus eingeladen, er ist gern gesehener Gast bei verschiedenen Talkshows.

Die erste Besonderheit von Teun Toebes: Er ist leidenschaftlicher Visionär – und es tut gut (nicht nur zu Beginn der Fastenzeit), Begegnungen mit Visionären für eine heilere und heilende Welt zu haben.

Die zweite Besonderheit von Teun Toebes: Seine Vision ist nicht am Schreibtisch oder in der Debatte entstanden. Mit 21 Jahren traf er die Entscheidung , in einem Pflegeheim zu leben – als Bewohner, nicht als Pfleger – um aus der Rolle des Pflegenden auszusteigen und um die Roller derer, die gepflegt werden müssen, hautnah zu erleben, auch sich als Mitbewohner ihnen zuzuwenden, mit Mitteln, die die staatlich geregelte Pflege nicht zulässt und sich für in der Pflege stehende nicht schickt.

Die dritte Besonderheit von Teun Toebes: Im vergangenen Jahr veröffentlichte er sein Erleben, seine Beobachtungen, seine Deutungen und seine Kritik am Pflegesystem auf der „Demenzstation“ auf 216 Seiten in „Der 21-jährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit ist.“ Der Dokumentarfilm „Human forever“, den Teun Toebes mit dem Dokumentarfilmemacher Jonathan de Jong im gleichen Jahr drehte, wurde beim G20-Gipfel zum Thema „Demenz“ am 02. Oktober 2023 (wie schön, zwei Tage vor dem Gedenktag des hl. Franz von Assisi) uraufgeführt, geht um die Welt und ist hoch prämiert.

Und all das eigentlich nur, weil ein jetzt 25jähriger sagt und lebt, dass Menschlichkeit auch in Pflegesituationen die Oberhand behalten soll. Vielleicht macht ihn das so visionär! Ich wage die These, dass Teuns Visionen vieles an Sehnsucht zu wecken vermögen – und gleichzeitig eine Abwehr bei den Lesenden hervorrufen, denn sie können Angst machen. Sie stellen beinahe alles „Gewohnte“ auf den Kopf – und öffnen den Weg, darüber nachdenken, wie es zu dem „Gewohnten“ eigentlich kam und was denn wohl vor dem „Gewohnten“ war.

Deswegen auch Teun Toebes Buch im Pfingst-Monat und nicht in der Fastenzeit! Ich wünsche Dir den Geist, den Teun meines Erachtens hat, einen wage-mutigen Geist!

Alle Zitate sind entnommen aus: Teun Toebes (2023): Der 21-jährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet, München. Die Ziffern in der Klammer am Ende des Zitats verweisen auf die Seitenzahl.

» Sobald man eine echte Verbindung herstellt, verschwindet die Demenz und der Mensch kommt zum Vorschein. «
Teun Toebes (*1999), niederl. Altenpfleger [online] https://teuntoebes.com/de/ [29.04.2024]

Die Zitate

„Sah so meine Zukunft aus?, fragte ich mich. Wie um Himmels willen konnte ich in dieser tristen Welt hinter verschlossenen Türen etwas Sinnvolles tun?“ (18)

„‘Es mag sein, dass ich Dinge vergesse, aber seit ich hier lebe, haben sie mich vergessen, Junge, so sieht’s aus.‘“ (19)“

„John hat mir nicht nur beigebracht, Menschen mit Demenz wahrzunehmen und ihnen zuzuhören, sondern mir auch etwas vor Augengeführt, was ich bei meinem ersten Besuch noch nicht hatte entdecken können: den Menschen hinter der Krankheit.“ (20)

„Dies ist kein Angriff auf Pflegekräfte, sondern eine Anklage gegen ein System, dass eine so große Distanz zwischen der Gesellschaft und den Menschen mit Demenz geschaffen hat. Ein System, das nicht nur Gesetze erlassen hat, nach denen Menschen mit Demenz ausgeschlossen und ignoriert werden dürfen, wenn es um wesentliche oder persönliche Angelegenheiten geht, sondern das auch für ein entsprechendes Pflegeklima gesorgt hat, in dem ein solcher Ausschluss die Regel und nicht die Ausnahme ist. Es liegt am System, dass sich nichts ändert. Wenn die Politik das Absurde zur Normalität erklärt, kann man von Menschen, die in der Pflege arbeiten, nicht erwarten, gegen diese Regel zu verstoßen. Denn sie würden schnell selbst als ‚schwierig‘ eingestuft, und das … das will niemand.“ (26)

„Für Menschen sorgt man mit dem Herzen, nicht mit Stift und Papier.“ (30)

„Mit dem big why im Gepäck betrachte ich meinen neuen Wohnort plötzlich als ein Spielfeld voller Fragen. Warum muss ein Pflegeheim wie eine Anstalt aussehen? Warum müssen die Flure so steril sein? Und warum leben alle im gleichen Rhythmus? Kurz gesagt: Warum sieht mein neues Zuhause so aus, wie es aussieht, und warum tun wir die Dinge so, wie wir sie ‚immer‘ tun?“ (61)

“Alles ist komplett auf Sicherheit ausgerichtet. Warum? Was ist der Grund dafür, dass die Sicherheit alle Aspekte des Lebens in einem Pflegeheim bestimmt? Und was vielleicht noch wichtiger ist, welche Konsequenzen hat das?“ (66)

„In meinen Augen sollten wir eine Pflege anstreben, bei der nicht die Sicherheit, sondern das Glück der Gepflegten im Vordergrund steht – ja, mit allen akzeptablen Risiken, die das mit sich bringt.“ (69)

„Sorgen wir dafür, dass Menschen, die es auf eine geschossene Station verschlagen hat, zumindest nicht so aussehen, als bräuchten sie niemandem mehr unter die Augen zu kommen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass Menschen, die in einem Pflegeheim leben, frisch, fröhlich, modisch und gepflegt aussehen. Denn auch bei ihnen wirkt sich das auf ihr Selbstwertgefühl und ihre Stimmung aus. Wenn sie selbst lieber in einem Pullover herumlaufen, ist das in Ordnung, aber wir dürfen sie nicht einfach verlottern lassen.“ (94)

„Menschen, die dafür ausgebildet wurden, anderen Menschen zu helfen, verschwinden […] in einer von Kontrollzwang beherrschten, bürokratischen Mühle. Es scheint, als würden wir uns mehr dafür engagieren, alles zu dokumentieren für den Fall, dass etwas falsch läuft, als das wir auf eine menschliche Art und Weise zu vermeiden versuchen, dass tatsächlich etwas falsch läuft.“ (122f)

„Platt gesagt: Pflege gilt nicht mehr als sexy, schon gar nicht die Pflege von Menschen mit Demenz. Ich verstehe das, denn wenn man den Kern des Berufes wegnimmt, was bleibt dann noch übrig? Wenn sich das Sorgen für Menschen in ein Versorgen wandelt, tun dann Pflegemitarbeiter eigentlich nichts anderes mehr, als Menschen am Leben zu erhalten. Ist es das, worum es bei der Arbeit im Pflegeheim geht? Wohl kaum, oder?“ (135)

„Die Faustregel im Umgang mit Menschen mit Demenz lautet, sich ihnen nicht unnötig zu widersetzen, sondern sich in der Welt mitzubewegen, die sie beschreiben. Das ist ihre Realität, und wenn man dagegen angeht, bringt man sie aus dem Gleichgewicht, was zu Stress, Panik oder Ärger führen kann. Also geht man mit, auch wenn jemand in einer geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims sagt, er oder sie wohne dort nicht.“ (142)

„Bitte betrachten Sie einen Menschen mit Demenz als

  • einen gleichwertigen Menschen (Gleichwertigkeit) (vgl. 161),
  • einen Menschen, der dazugehört (Inklusion) (vgl. 169),
  • einen vollwertigen Menschen (Würde) (vgl. 170)
  • einen Menschen, mit dem man in Kontakt treten kann (Gegenseitigkeit) (vgl. 113)“

„Wir haben die Pflicht, die Selbstbestimmung eines Menschen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Wenn es schwerwiegende Verhaltensprobleme gib, müssen wir versuchen, sie in gute Bahnen zu lenken, ohne den Menschen ihr wichtigstes Menschenrecht abzusprechen.“ (168)

„Das bedeutet auch, dass wir mit den Bewohnern sprechen und beratschlagen müssen und nicht über sie.“ (168)

„Lassen Sie uns Menschen mit Demenz nicht wie Verrückte behandeln , sondern mit Respekt. Helfen Sie mit, das Stigma zu durchbrechen. Denn es ist nicht nur äußerst abwertend, sondern sorgt auch dafür, dass die Stigmatisierung einer ‚bestimmten Art‘ von Menschen noch weiter verstärkt wird, wenn man von ‚Dementen‘ oder ‚Dementierenden‘ spricht. Lassen Sie uns stattdessen sprechen von Menschen, die mit Demenz leben.“ (170f)

„Sollten Sie bei einem Betreuungsdilemma Zweifel überkommen, dann ist Folgendes mein Appell: Denken Sie daran, was Sie sich für Ihre Mutter, Ihren Vater, Ihren Bruder oder Ihre Schwester wünschen würden, und ich bin sicher, dass Ihr sozialer und moralischer Kompass Ihnen die richtige Richtung weisen wird. Pflege muss einen berühren, nur dann werden sich die Dinge ändern.“ (172)

„Gehen Sie also offen auf Menschen mit Demenz zu, beurteilen Sie sie nicht nach ihrer ersten Reaktion, streiten Sie nicht mit ihnen, sondern hören Sie ihnen zu und begleiten Sie sie. Schauen Sie, worauf sie reagieren, was ihnen gefällt, und passen Sie sich immer wieder an. Es braucht eine Weile, aber es lohnt sich so sehr.“ (174)

Köln, 29.04.2024
Harald Klein

[1] Diese Selbstbeschreibungen finden sich in der ZDF-Mediathek [online] https://www.zdf.de/gesellschaft/plan-b/planb-zur-sendung-plb-100.html [29.04.2024].

[2] Du findest die Sendung „plan b“ und einen Begleittext dazu auf [online] https://www.zdf.de/nachrichten/wissen/altenpflege-rehabilitativ-muelheim-plan-b-100.html [29.04.2024]. Die Seite https://teuntoebes.com/de/ stellt den jungen Visionär, seine Ideen, die Rezeption in Film und auf der Bühne sowie den Film und die Stiftung „Human forever“ vor.