Erster Fastensonntag – Versuchung? oder: (Sich) Klar werden

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
  • –   
  • –   

Die Versuchung Jesu

Im gleichen – dem vierten – Kapitel vorgeschaltet vor die Berufung der ersten Jünger ist die Geschichte der Versuchung Jesu, die Eugen Drewermann als „dreimaliges Nein zugunsten reiner Menschlichkeit“ kommentiert.[1] Da ist die Frage nach dem Problem des sozialen wie des seelischen Hungers, da ist die Frage nach der Verlockung der Macht und da ist die Frage nach der Verfälschung des Religiösen – in spiritueller Hinsicht vielleicht die ärgste der sog. „Versuchungen“.

» 'Versuchen' kann einen Menschen nicht eine ichferne Macht zwischen Gott und Welt, 'versucht' wird der Mensch stets durch sich selbst. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freibura.a.O., 214.

Versucht die Versuchung oder versucht der Versucher?

Über die „Versuchungen“, über den „Versucher“, das „Versuchende“ und das „Versuchen“ an sich möchte ich ein wenig mit Ihnen nachdenken. Ich schließe mich dabei den Deutungen Eugen Drewermanns an, der – „entgegen vor allem der Dogmatik der römisch-katholischen Kirche“[2] – die „ganze Auseinandersetzung um die Heraufführung eines neuen Menschheitsmorgens als ein ganz und gar inneres Geschehen“ begreift.“[3] Den oder einen Versucher als eine „Person“ oder als eine persönliche Wirklichkeit neben dem Schöpfer und neben dem Geschöpf will ich nicht glauben. Um es knapp zu sagen: Nicht ein Versucher außerhalb meiner führt mich in Versuchung, sondern das als versuchendes Erkannte in mir versucht mich. Oder noch einmal in den Worten Eugen Drewermanns: „’Versuchen‘ kann einen Menschen nicht eine ichferne Macht zwischen Gott und Welt, ‚versucht‘ wird der Mensch stets durch sich selbst.“[4]

» Gleichwohl gab es unter den großen Menschheitsführern im 20. Jh. wohl nur einen einzigen, der in seiner Haltung die innere Wandlung verkörperte, von der in der Geschichte der Versuchung Jesu die Rede ist: der Hindu MAHATMA GANDHI (1869-1948). Er engagierte sich mit aller Leidenschaft für die Freiheit und die Würde der Bewohner Indiens, nicht weil sie Inder, sondern weil sie Menschen waren, nicht anders als die Engländer, von denen sie beherrscht und ausgebeutet wurden. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 228.

„Sehnsucht“ statt „Versuchung“

Es nimmt einiges aus der Dramatik der Versuchungsgeschichte, wenn Sie statt des Wortes „Versuchung“ mit dem Begriff der „Sehnsucht“ arbeiten! Eine Lösung für den seelischen wie den sozialen Hunger finden wollen, Macht – im Sinne von Selbstwirksamkeit und Lösungsorientierung besitzen wollen, sich rückbinden an eine das ganze Leben tragende und umfassende Religion – nicht anders als „sich rückbinden“ wäre die passende Übersetzung des lat. re-ligare, das der Religion ihren Namen gibt – das alles sind Inhalte der Sehnsüchte der Menschen neben vielen anderen.

Zu Versuchungen werden sie erst dann, wenn deren Erfüllung zu Lasten der Menschen geht, die um Sie herum sind, und zu Lasten des Menschen, der Sie selbst sind. Vielleicht liegt darin die beinahe verzaubernde Atmosphäre, die Mahatma Gandhi in seiner Gewaltfreiheit während der britischen Besatzung Indiens ausstrahlte: Er ließ nicht zu, dass seine Sehnsucht zur Versuchung wurde – seine Selbstzeugnisse zeigen, dass dies nicht kampflos (in ihm und gegenüber anderen) stattfinden konnte, um seines eigenen Menschseins und des Menschseins der anderen um ihm herum. Mit Fug und Recht kann man hier auch von einer Versuchungsgeschichte mit den entsprechenden Prozessen des Ringens um Klarheit sprechen.

» Der 'einfachste' Ansatz, um das 'Böse' als das Ergebnis einer rein geistigen Einstellung zu begreifen, liegt mithin darin, es als ein Scheitern der Suche nach dem absolut Guten in Anbetracht einer stets unvollkommenen Wirklichkeit aufzufassen. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 213.

Sich klar werden – oder: Zwischen Sehnsucht und Versuchung

Den Anfang der Fastenzeit – neben dem Sich-Einrichten in den Tagen von Aschermittwoch bis zum Ersten Fastensonntag – bildet das Evangelium von der Versuchung Jesu, vielleicht besser: von der Versuchung in Jesus. Den Anfang der Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte können Sie neben den Text des Evangeliums legen:

„Wem klar geworden ist, dass der Frieden des Geistes das Ziel seines Lebens ist, der bemühe sich um folgende Gesinnung…“

Wem klar geworden ist…: Das gilt dem Schüler, der Schülerin des Buddha genauso wie es Jesus in der Geschichte von seiner Versuchung gilt. In einer unvollkommenen Wirklichkeit sich neu und immer wieder neu auszurichten nach dem, was dem eigenen Leben und dem Leben derer um Sie herum dient. Es geht um Gesinnung, die zur Haltung wird und zur Handlung führt. Es geht um die Sehnsucht, die in Jesus wie in allen anderen Menschen wohnt und wirkt, und darum, sie lebensdienlich zu leben oder zu lassen. Ich muss mir, Sie müssen sich selbst klar werden, Klarheit haben darüber, welcher Geist wirklich, d.h. wirkend am Werk ist; und es ist kein Geist von außen, kein „Versucher“, sondern eine Wirklichkeit in Ihnen. Die kürzeste Definition von „Wirklichkeit“ könnte sein: „Wirklich ist, was wirkt“.

» Im übrigen bleibt es immer ein Fehler, Liebe kontrollieren zu wollen. Man kann nur die Angst überlieben oder die Liebe überängstigen - eins von beidem. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 234.

Klar sein als Ziel der Fastenzeit

Eine Zeit der Neuorientierung kann damit starten, sich der eigenen Sehnsucht klar zu werden. Im zweiten Schritt zu unterscheiden, welche Dynamik sie hat – als Sehnsucht dem Leben dienlich oder als Versuchung der Leben schädlich gegenüber. Und seien Sie darauf gefasst, dass das eine gut im Gewand des anderen sich zeigen und wirken will. Sie werden immer nur den Ist-Stand überprüfen können, weil Leben sich fortschreibt. Letztlich geht es immer um eine Kontroverse zwischen Liebe und Angst. Das finden Sie auch genauso in der Beschreibung des Lebens Jesu und es Lebens derer um ihn herum. Ein letztes Mal einmal Eugen Drewermann: „Im übrigen bleibt es immer ein Fehler, Liebe kontrollieren zu wollen. Man kann nur die Angst überlieben oder die Liebe überängstigen – eins von beidem.“[5]

Sich klar werden über das, was an Sehnsucht da ist und wie es zur Versuchung zu werden drängt, heißt, sich zwischen diese beiden Pole stellen. Weder die Angst überlieben wollen noch die Liebe überängstigen, sondern sich klar zwischen diesen beiden Polen „Liebe“ und „Angst“ bewegen. So, dass es dem Leben dient!

Amen.

Köln 04.03.2022
Harald Klein

[1] Vgl. Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 210-234.

[2] a.a.O., 211.

[3] a.a.O., 212.

[4] a.a.O., 214.

[5] a.a.O., 234.