Etty Hillesum – Das denkende Herz. Tagebücher 1941-1943

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Inhalt: Für die Predigten in der Österlichen Bußzeit 2019 möchte ich gerne auf die Tagebuch-Einträge von Etty Hillesum zurückgreifen. Ihr Suchen und Ringen, ihr Lebens- und Glaubensweg in der Zeit als junge Frau jüdischen Glaubens 1941-1943 in den besetzten Niederlanden soll und kann ein Zeugnis eines Lebens mit Gott in schwerer Zeit sein. Ich stelle hier Zitate zur Verfügung, die ich während der Lektüre gesammelt habe und mit deren Hilfe ich Anregungen zu Gebet und Predigt zu finden hoffe. Angemerkt sei, dass ich die Rechtschreibung in den Zitaten der heutigen Rechtschreibung angepasst habe. Außerdem habe ich mir erlaubt, das „Du“ Gottes meiner eigenen Gewohnheit gemäß mit einem Großbuchstaben zu beginnen. Hier weiche ich von der Vorlage bewusst ab.

Die Tagebücher der holländischen Jüdin Etty Hillesum, Jahrzehnte nach ihrem Tod entdeckt, reichen von März 1941 bis zum September 1943, als sie nach Auschwitz gebracht wurde. Dort wurde sie am 30. November 1943 ermordet, noch keine 30 Jahre alt. Aus ihren Tagebüchern spricht ein tiefer Glaube an das Gute in jedem Menschen und ein existenzielles Ringen mit Gott. Sie sind ein Dokument der Menschlichkeit, das auf der ganzen Welt gelesen wird. Zum 100. Geburtstag jetzt neu in lesefreundlichem Hardcover mit einer Einführung von Christian Feldmann. Er zeichnet ein lebendiges Bild dieser temperamentvollen und tiefgründigen, ganz und gar außergewöhnlichen Frau.“

Quelle: https://www.herder.de/leben-shop/das-denkende-herz-der-baracke-gebundene-ausgabe/c-28/p-2460/[06.02.2019]

Die Ausgabe, aus der zitiert wurde: J.G. Gaarlandt (Hg.)(2018): Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, 28. Aufl., Reinbek bei Hamburg – die Seitenzahl ist hinter dem Zitat vermerkt.

Auf YouTube findet sich hier ein 30min Film der Geistlichen Gemeinschaft Chemie Neuf über Hillesum mit dem Titel „Die Liebe ist die einzige Lösung“.

Die Zitatesammlung kann am Ende des Beitrages unten rechts als pdf-Datei heruntergeladen werden.

Aus den Tagebüchern:

„Ich glaube, dass ich das tun sollte: morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‚mich nach innen wenden‘, horchen nach dem, was in mir ist. ‚Sich versenken.‘ Man kann es auch als meditieren bezeichnen. Aber vor dem Wort graut es mir doch ein bisschen. Aber warum eigentlich? Eine halbe Stunde mit mir selbst allein. Es genügt nicht, morgens im Badezimmer nur Arme, Beine und alle anderen Muskeln zu bewegen. Der Mensch besteht aus Körper und Geist. Und eine halbe Stunde Gymnastik und eine halbe Stunde ‚Meditation‘ können zusammen ein solides Fundament für die Konzentriertheit eines ganzen Tages bilden.“ (35)

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„Gestern habe ich einen Augenblick lang gedacht, ich könnte nicht mehr weiterleben und hätte Hilfe nötig. Ich konnte den Sinn des Lebens und den Sinn des Leidens nicht mehr erkennen, ich hatte das Gefühl, unter einem gewaltigen Gewicht zusammenzubrechen, aber auch dadurch habe ich einen Kampf durchgefochten, der mich weitergebracht hat, durch den ich stärker bin als vorher. Ich habe versucht, dem Leid der Menschheit gerade und ehrlich in die Augen zu schauen, ich habe mich damit auseinandergesetzt, oder besser: irgendwas in mir hat sich damit auseinandergesetzt. Auf viele verzweifelte Fragen bekam ich Antwort, die große Sinnlosigkeit hat wieder einer gewissen Ordnung und Regelmäßigkeit Platz gemacht, und ich kann wieder weitermachen. Es war wiederum nur eine kurze, aber heftige Schlacht, aus der ich ein winzig kleines bisschen reifer hervorgegangen bin.“ (38)

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„Nach einer Weile werde ich wohl wieder schreiben: Wie ist das Leben doch schön, und wie glücklich bin ich doch, aber jetzt kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie mir dann zumute sein wird. Ich habe noch keine Grundmelodie. Es ist noch keine beständige Tiefenströmung vorhanden, die mich nährende innere Quelle versiegt immerzu, und außerdem denke ich zuviel.“ (45)

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„Eine kaltblütige, eiskalte Objektivität werde ich mit meiner Veranlagung natürlich nie erlangen. Dazu habe ich zuviel Gemüt. Aber mein Gemüt macht mich auch nicht mehr so kaputt wie früher. […] Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Das große Leid überall treibt einen dazu, sich zu schämen, dass man sich selbst mit seinen Stimmungen so ernst nimmt. Aber man muss sich selbst weiterhin ernst nehmen, man muss selbst im Mittelpunkt bleiben und versuchen, mit allem, was in der Welt geschieht, fertig zu werden. Man darf die Augen vor nichts verschließen, man muss sich mit dieser schrecklichen Zeit auseinandersetzen und versuchen, eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen von Leben und Tod, die diese Zeit einem stellt. Und vielleicht findet man die Antwort auf einige dieser Fragen nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Ich lebe nur einmal. Ich muss allem ins Auge blicken. Manchmal komme ich mir vor wie ein Pfahl in einer stürmischer See, an allen Seiten von den Wellen gepeitscht. Aber ich bliebe stehen und verwittere im Laufe der Jahre. Ich will alles voll erleben.“ (49)

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„In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen, und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die beim Beten die Augen zu Himmel erheben. Sie suchen Gott außerhalb ihrer selbst. Es gibt auch andere, die den Kopf senken und in den Händen verbergen.; ich glaube, diese Menschen suchen Gott in sich selbst.“ (52)

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„Mutter, die zu einem gegebenen Anlass sagte: ‚Ja, eigentlich bin ich religiös.‘ Vor ein paar Tagen sagte ‚Tante Pied‘ am Herd fast dasselbe: ‚Eigentlich bin ich religiös.‘ Das ‚eigentlich‘, das macht ihnen zu schaffen. Die Menschen zu lehren, dieses ‚eigentlich‘ wegzulassen, damit sie den Mut haben, ihre tiefsten Gefühle zu bejahen. Was meinte sie mit ‚eigentlich‘?“ (86)

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„Ein kurzes, zufälliges Gespräch mit Jan Bool in der kalten, engen Langebrugsteeg und an der Straßenbahnhaltestelle. ‚Was ist das im Menschen, das die anderen vernichten will?‘, fragte Jan verbittert. Ich sagte: ‚Die Menschen, ja die Menschen. Aber denke daran, dass du auch zu ihnen gehörst.‘ Und gegen meine Erwartung gab er das zu, er, der bockige, mürrische Jan. ‚Und die Schlechtigkeit der anderen ist auch in uns vorhanden‘, predigte ich weiter. ‚ich sehe keine andere Lösung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich dem eigenen Inneren zuzuwenden und dort all das Schlechte auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äußeren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben. Das scheint mir die einzige Lehre dieses Krieges zu sein. Dass wir gelernt haben, das Übel nur in uns selbst zu suchen und nirgendwo anders.'“ (92)

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„Es ist oft kaum zu fassen, Gott, was Deine Ebenbilder auf dieser Erde in diesen entfesselten Zeiten sich gegenseitig antun. Aber ich schließe mich davor nicht in meinem Zimmer ein, Gott, ich halte die Augen offen und will vor nichts davonlaufen, sondern versuchen, auch die schlimmste Verbrechen irgendwie zu begreifen und zu ergründen, und ich versuche immer wieder, den nackten kleinen Menschen aufzuspüren, der aber in den monströsen Ruinen seiner sinnlosen Taten oft nicht mehr zu finden ist.“ (103)

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„Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem: der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrig bleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen. Zu dieser Einstellung müsste man die Juden erziehen. Ich radelte heute morgen über den Stadionkade, genoss den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht rationierte Luft. Und in der freien Natur überall Tafeln auf den Wegen, die für Juden gesperrt sind. Aber auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben, man kann uns wirklich nichts anhaben. Man kann es uns recht ungemütlich machen, man kann uns der materiellen Güter berauben, auch der äußeren Bewegungsfähigkeit, aber letzten Endes berauben wir uns selbst unserer besten Kräfte durch unsere falsche Einstellung. Weil wir uns verfolgt, erniedrigt und unterdrückt fühlen. Durch unseren Hass. Durch unsere Wichtigtuerei, hinter der sich die Angst verbirgt. Man darf durchaus manchmal traurig und niedergeschlagen über das uns Angetane sein; das ist menschlich und verständlich. Und dennoch: den größten Raubbau an uns treiben wir selbst. Ich finde das Leben schön und fühle mich frei. Der Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir. Ich glaube an Gott und ich glaube an die Menschen, das wage ich ohne falsche Scham zu sagen. Das Leben ist schwer, aber das ist nicht schlimm. Man muss beginnen, sich selbst ernst zu nehmen, und das übrige kommt von selbst. Und das ‚Arbeiten an sich selbst‘ ist weiß Gott kein kränklicher Individualismus. Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, dass kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht sogar zu Liebe werden könnte. Aber das ist vermutlich zuviel gefordert. Und doch ist es die einzige Lösung. So könnte ich weitermachen, viele Seiten lang. Das Stückchen Ewigkeit, das man in sich trägt, kann man ebenso in einem einzigen Wort ausdrücken wie in zehn dicken Bänden abhandeln. Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben, jawohl, im Jahr des Herrn 1942, dem soundsovielten Kriegsjahr.“ (115)

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„Es klingt fast paradox: Wenn man den Tod aus seinem Leben verdrängt, ist das Leben niemals vollständig, und indem man den Tod in sein Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben.“ (125f)

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„Vielleicht darf ich noch einen Monat hierbleiben, bevor man entdeckt, dass ich durch die Maschen der Verordnungen geschlüpft bin. Ich werde meine Papiere in Ordnung bringen und jeden Tag Abschied nehmen. Der wirkliche Abschied ist dann nur noch eine kleine äußerliche Bestätigung dessen, was Tag für Tag in mir vorgegangen ist.“ (136)

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„Es gibt heutzutage nur zwei Möglichkeiten: Entweder man denkt nur noch rücksichtslos an sich und seine Selbsterhaltung, oder man muss auf alle persönlichen Wünsche verzichten und sich dem Schicksal ergeben. Für mich bedeutet Ergebung nicht Resignation oder Entsagung, sondern den Versuch, mach besten Kräften dort zu helfen, wo Gott mich zufällig hinstellt, und mich nicht nur dem eigenen Kummer und Ärger hinzugeben. Mir ist immer noch so sonderbar zumute. Ich könnte es so ausdrücken: Als ob ich nicht ginge, sondern schwebte, vielleicht stehe ich noch nicht ganz so fest in der Realität und weiß noch nicht so genau, was uns erwartet.“ (138)

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„Den Brief unseres deutschen Soldaten muss ich noch in Sicherheit bringen, bevor Liesl nach Drenthe geht, um ihn als ‚documentum humain‘ aufzuheben. Nach der ersten, großen, niederschmetternden Verzweiflung zeichnen sich viele merkwürdige Wendungen in der Geschichte ab. Das Leben ist so grotesk und überraschend, so ungeheuer vielfältig, und nach jeder Wegbiegung ist die Aussicht wieder völlig anders. Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, man muss sich innerlich von allen gewohnten Vorstellungen und Parolen befreien, man muss jeglichen Gehorsam aufgeben und den Mut haben, auf alles zu verzichten, jede Norm und jeden konventionellen Halt loszulassen und den großen Sprung in den Kosmos zu wagen, und dann, erst dann wird das Leben überreich und unerschöpflich, auch im tiefsten Leid.“ (140)

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„Wörter wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.“ (142)

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„Fliehen oder verstecken hat überhaupt keinen Sinn, es gibt kein Entkommen, wir müssen mitgehen und versuchen, den anderen, so gut wir können, zu helfen.“ (149)

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„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche Dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will Dir helfen, Gott, dass Du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass Du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir Dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von Dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir helfen, Dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“ (149)

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„Ich möchte gerne noch eine Stunde intensiv studieren, ehe ich diesen Tag beginne, ich fühle ein großes Bedürfnis danach und habe auch die Konzentration dazu. Als mich die Sorgen in aller Frühe wieder überfielen, bin ich aufgestanden. Gott, nimm sie von mir weg.“ (161f)

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„Es ist trostlos. Und trotzdem bleibe ich dabei: Wenn wir dem Chaos hier nicht Trotz bieten, durch etwas Strahlendes und Starkes, das irgendwo an einem ganz anderen Ort völlig von neuem beginnt, dann sind wir verloren, endgültig und für alle Zeit verloren. Ich werden den Weg zu diesem Neuen, Strahlenden finden, auch wenn er jetzt verschüttet ist.“ (165)

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Im August 1942 wurde Etty Hillesum ins Durchgangslager Westerbork geschickt. Aufgrund ihrer Mitarbeit im „Judenrat“ hatte sie die Möglichkeit, hin und wieder das Lager kurzzeitig zu verlassen. Ihr Tagebuch konnte sie in Westerbork fortführen, im Gepäck hatte sie noch eine kleine Bibel und die Ausgabe von Rilkes Briefen sowie dessen „Stundenbuch“.

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„Ich habe erfahren, dass man alles Schwere in Gutes verwandeln kann, indem man es trägt.“ (171)

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„Wenn man einmal soweit gelangt ist, dass man das Leben als sinnvoll und schön empfindet, auch in dieser Zeit und gerade in dieser Zeit, dann scheint es, als hätte alles, was kommt, nur so kommen können und nicht anders.“ (172)

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„Es ist sicher gut, dass Du meinen Körper hast ‚Halt‘ rufen lassen, mein Gott. Ich muss ganz gesund werden, um all das tun zu können, was ich tun muss. Aber vielleicht ist das auch wieder nur eine konventionelle Vorstellung. Auch wenn man Schmerzen im Körper hat, kann doch der Geist weiterwirken und fruchtbar sein? Und lieben und ‚hineinhorchen‘ in sich und andere, und forschen nach den Zusammenhängen in diesem Leben und nach Dir. ‚Hineinhorchen‘, dafür möchte ich einen guten holländischen Ausdruck finden. Eigentlich ist mein Leben ein unablässiges ‚Hineinhorchen‘ in mich selbst, in andere und in Gott. Und wenn ich sage, dass ich ‚hineinhorche‘, dann ist es eigentlich Gott, der in mich ‚hineinhorcht‘. Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste in dem anderen horcht. Gott zu Gott.“ (176)

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„In Worte fassen, vertonen, abbilden. Viele Menschen sind noch Hieroglyphen für mich, aber allmählich lerne ich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben herauszulesen aus den Menschen. In Westerbork war es, als stünde ich vor dem nackten Gerüst des Lebens. Dem innersten Skelett des Lebens, herausgelöst aus aller Verschalung. Ich danke Dir, mein Gott, dass Du mich immer besser lesen lehrst.“ (178)

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„Ich gehe an den Menschen vorbei wie an Ackerflächen und schaue nach, wie hoch das Gewächs der Menschlichkeit gewachsen ist.“ (182)

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„Es ist die einzige Möglichkeit, […] ich sehe keinen anderen Weg, als dass jeder von uns Einkehr hält in sich selbst und all dasjenige in sich ausrottet und vernichtet, was ihn zu der Überzeugung führt, andere vernichten zu müssen. Wir müssen durchdrungen sein von dem Gedanken, dass jeder Funken Hass, den wir zu der Welt hinzufügen, sie noch unwirtlicher macht, als sie ohnehin ist.“ (185)

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„Schenke mir eine Gedichtzeile am Tag, mein Gott, und wenn ich sie nicht immer aufschreiben kann, weil es kein Papier und kein Licht gibt, dann werde ich sie abends leise unter Deinem großen Himmel aufsagen. Aber schenke mir ab und zu eine kleine Gedichtzeile.“ (188)

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„Ich bemerke immer wieder, wie sehr Rilke einer meiner großen Erzieher im letzten Jahr gewesen ist.“ (190)

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„Es stimmt, ich lebe intensiv, wenn es mir auch manchmal wie eine dämonische und ekstatische Intensität vorkommt, aber ich erneuere mich von Tag zu Tag am Urquell, am Leben selbst, und ruhe mich von Zeit zu Zeit in einem Gebet aus. Aber diejenigen, die zu mir sagen: ‚Du lebt zu intensiv‘, wissen nicht, dass man sich in ein Gebet zurückziehen kann wie in eine Klosterzelle und dass man dann mit erneuerter Kraft und wiedergewonnener Ruhe weitergeht.“ (191f

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„Mein ‚Tun‘ soll darin bestehen, zu ’sein‘!“ (193)

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„Wenn doch jeder auf seine innere Stimme hören, sie nur einmal in sich selbst erklingen lassen wollte – es gäbe eine Menge Chaos weniger.“ (197)

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„In alle Lager von ganz Europa möchte ich kommen, an allen Fronten möchte ich sein, ich will an allen Orten, wo ich bin, ein wenig Verbrüderung zwischen den sogenannten Feinden stiften, ich will begreifen, was geschieht, ich möchte, dass so viele Menschen, wie ich erreichen kann – und ich weiß, dass ich viele Menschen erreichen kann, mach mich gesund, mein Gott, – das Weltgeschehen aus meiner Sicht begreifen können.“ (198f)

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„Ich will noch ein paar Tage ruhig liegenbleiben, aber danach will ich ein einziges großes Gebet sein. Eine einzige große Ruhe. Ich muss wieder die Ruhe in mir tragen. ‚Patientin muss ein ruhiges Leben führen.‘ Sorge Du für meine Ruhe, mein Gott, an jedem Ort. Es kann sein, dass ich die Ruhe nicht mehr fühle, weil ich möglicherweise die falschen Dinge tue. Vielleicht, ich weiß es nicht. Ich bin so sehr ein Mensch der Gemeinschaft, mein Gott, ich habe nie gewusst, wie sehr. Ich will mitten unter den Menschen und ihren Ängsten sein, ich will alles selber sehen und begreifen und später nacherzählen.“ (199)

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„Das viele Reden mit Freunden tut mir im Augenblick nicht gut. Ich verausgabe mich dabei völlig. Ich bin noch nicht stark genug, um mich zurückzuziehen. Irgendwann einmal das richtige Gleichgewicht zwischen meiner introvertierten und extravertierten Seite zu finden ist meine große Aufgabe. Beide sind gleich stark in mir. Ich habe gern Kontakt mit Menschen. Mir ist, als würde ich durch meine intensive Aufmerksamkeit das Beste und Tiefste aus ihnen hervorlocken, sie öffnen sich mir, jeder Mensch ist für mich eine Geschichte, die das Leben mir selbst erzählt. Und meine Augen brauchen nur begeistert zu lesen. Das Leben vertraut mir so viele Geschichten an, ich werde sie weitererzählen müssen und sie jenen Menschen nahebringen, die nicht so unmittelbar aus dem Leben zu lesen vermögen. Gott, Du hast mir die Gabe verliehen, dass ich lesen kann, wirst Du mir auch die Gabe schenken, schreiben zu können?“ (201f)

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„Und dennoch komme ich immer wieder zu demselben Schluss: Das Leben ist schön. Und ich glaube an Gott. Und ich will mittendrin in alldem sein, was die Menschen ‚Gräueltaten‘ nennen und dann noch sagen: ‚Das Leben ist schön.'“ (202)

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„Durch mich hindurch fließen breite Flüsse, in mir erheben sich hohe Gebirge. Und hinter dem Gestrüpp meiner Unruhe und Verwirrungen erstrecken sich breite Ebenen der Ruhe und Ergebung. Alle Landschaften sind in mir vorhanden. Und es ist auch für alles Platz. Die Erde ist in mir, und auch der Himmel ist in mir. Und dass die Menschen so etwas wie eine Hölle haben erfinden können, ist mir auch vollkommen verständlich. Ich erlebe nun nie mehr die Hölle in mir selbst – ich habe sie früher für ein ganzes Leben im Voraus erlebt -, aber die Hölle der anderen kann ich sehr intensiv miterleben. Das muss so sein, sonst würde man vielleicht selbstgerecht werden.“ (203f)

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„Und wenn mein Ungestüm zu groß ist und ich mir keinen Rat mehr weiß, dann bleiben mir immer noch die gefalteten Hände und das gebeugte Knie.“ (204)

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„Ich halte die Seele für jenen Teil des Menschen, der ihm am wenigsten bewusst ist, vor allem bei den Westeuropäern, ich glaube, dass der östliche Mensch viel stärker mit seiner Seele ‚lebt‘. Der Mensch des Westens weiß nicht viel mit ihr abzufangen und schämt sich seiner Seele, als wäre sie etwas Unsittliches. Seele ist wieder etwas anderes als das, was wir ‚Gemüt‘ nennen. Es gibt Menschen, die zwar viel ‚Gemüt‘ haben, aber nur wenig Seele.“ (205)

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„Manchmal bricht plötzlich überall die Dankbarkeit in vollen Flammen in mir aus, wenn, wie jetzt, die Freundschaften und Menschen des vergangenen Jahres in überwältigender und ganzer Größe vor mir erstehen.“ (206)

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„Wenn ich leide mit den Wehrlosen, ist es dann nicht um das Wehrlose, das in mir selbst ist?“ (207)

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„Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.“ (207)

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Mit diesem Eintrag endet das Tagebuch, die folgenden Zitate sind Briefen entnommen, die Etty Hillesum aus dem Durchgangslager Westerbork geschrieben hat.

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„Es ist leichter, aus der Ferne für jemanden zu beten, als ihn neben sich leiden zu sehen.“ (211)

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„Du hast mich so reich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit Dir, mein Gott geworden, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf Deiner Erde, das Gesicht zu Deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprungen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Auch abends, wenn ich im Bett liege und in Dir ruhe, mein Gott, rinnen mir manchmal die Tränen der Dankbarkeit übers Gesicht, und das ist mein Gebet.“ (216)

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Nachdem Etty Hillesum am 07. September aus dem Lager Westerbork zum Transport in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufbrechen musste, schrieb ihr Freund Jopie Vleeschouwer am 6./7.09.1943 an die gemeinsamen Freundinnen und Freunde:

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„Fort ist sie. Da stehen wir, beraubt, aber nicht mit leeren Händen. Wir werden einander bald wiederfinden. […] Das erste Gefühl ist doch das einer Leere. Aber wir machen weiter; während ich dies schreibe, geht alles weiter seinen Gang; und sie selbst fährt weiter in den Osten, in den sie immer so gern reisen wollte. Irgendwie war sie auch ein bisschen froh darüber, glaube ich, dass sie nun auch alles und alles miterleben werde, was uns auferlegt ist. Und wir werden sie wiedersehen. Darüber sind wir (ihre engsten Freunde hier) uns einig. Nach der Abfahrt sprach ich mit ihrer kleinen Russin und einigen anderen ihrer Schützlinge. Und schon allein die Art, wie diese auf ihr Fortgehen reagierten, sprach Bände über die Liebe und Treue, die sie diesen Menschen gegeben hat. […] Ich weiß, dass viele Fragen offenbleiben, vor allem die Frage, hätte es sich nicht vermeiden lassen? Darauf kann ich nur antworten: Nein! Es hat anscheinend so sein müssen. […] Ich wünsche Euch allen Kraft. Wir kommen alle zurück, und Menschen wie Etty behaupten sich auch in den schwierigsten Dingen. Meine Gedanken gehen oft zu Euch.“ (221f)

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Etty Hillesum wurde am 30. November 1943 im Lager Auschwitz-Birkenau m Gas umgebracht.

 

Norderney, 06.03.2019
Harald Klein