Sechster Sonntag der Osterzeit: Geschmack am Christsein finden

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Christsein – wie ein Überraschungs-Ei

Das Liebesgebot Jesu – „Dies trage ich Euch auf, dass Ihr einander liebt“ (Joh 15,17) ist das Schlusswort des heutigen Evangeliums, das an das Evangelium des letzten Sonntags anschließt. Joh 15 beginnt mit dem Gleichnis vom Weinstock, hier war die Alternative zwischen dem fruchtlos-furchtvollen bzw. dem fruchtvoll-furchtlosen Leben entscheidend. Wer in, aus oder mit der auf etwas gerichteten Furcht lebt, oder gar in, aus oder mit der ungerichteten Angst, braucht sich nicht wundern, dass sein oder ihr Leben ohne Frucht bleibt oder nur kärgliche Früchtchen aufzuweisen hat. Aber dann – was tun?

In der Versuchungsgeschichte war es die Erfahrung Jesu, die er selbst gemacht hat, dass er sich vom Versucher nicht auf Ängste oder falsche Erwartungen hat festlegen lassen. In den österlichen Evangelien erfahren die Jünger und Jüngerinnen Jesus, den Auferstandenen, als den, der ihnen Furcht und Angst vor dem Leben nimmt, wie er es schon in seinem irdischen Leben getan hat, so etwa in den Abschiedsreden im Johannes-Evangelium, zu denen Joh 15 eben gehört.

Um es vorwegzusagen: Angst oder Furcht vor dem Leben nehmen lassen, das geht bei Johannes nur, wenn Du Dich von ihm lieben lässt und seine Liebe annimmst (vgl. „Bleibt in meiner Liebe“, Joh 15,9) und Du genau in dieser Liebe Dir und anderen begegnest (vgl. „Dies trage ich euch auf, dass Ihr einander liebt“, Joh 15,17).

Entscheidend ist, dass dieses „Bleiben“ kein Zustand, kein Habitus ist – i.S.v.: einmal die Taufurkunde unterschrieben, dem „Verein Jesu“ beigetreten und dringeblieben. Wenn das Wort „Bleiben“ auch noch so passivisch klingt, ich verstehe dieses „Bleiben“ als absolut aktivisch! Dieses „Bleiben“ erfordert als Ziel einen Plan, damit es nicht nur ein Wunsch sei, und es erfordert Übung und Reflektion.

Es wird Dich vielleicht überraschen: Das Christsein, das Christ zu bleiben hat eine absolut ähnliche Parallele zu den Überraschungseiern im Schokoladenregal des Supermarktes. Es gibt eine bunte Verpackung, in der sie erscheinen, auf die man aber auch getrost verzichten kann. Es gibt eine süße Schale aus Schokolade, die Du herrlich aufknacken kannst. Und dann kommt das kleine, gelbe Plastik-Ei, dass Du öffnen und dass Dir seine eigene Welt verrät, die Du mit wenigen Handgriffen zusammengebaut hast (Ich muss nicht betonen, dass beim letzten Punkt der Vergleich nicht nur hinkt, sondern sich angesichts der im Ei gefundenen „Bastel-Welt“ fast ins Gegenteil umschlägt). Für mich entscheidend in diesem Vergleich ist: Du weißt um den Geschmack, der sich hinter der Verpackung verbirgt, aber Du weißt nicht, welche „Überraschung“ das Ei Dir anbietet oder entgegenhält. Es mag sein, dass Du Dir den zehnten Schweizer Gardisten als Figur wünschst, oder einen Ottifanten – Dein Wünschen wird die „Überraschung“ im Ei nicht beeinflussen; wem es hilft, der oder die mag dann die Tauschbörsen übers Internet nutzen, um sich die Wünsche selbst zu erfüllen, die die Überraschungs-Eier ihm oder ihr verweigert haben.

» Die Kultivierung verschreibt sich der Qualität,
die Optimierung der Quantität. «
Kops, Krisha (2023): Selbstoptimierung: Das vermessene Ich [online]https://ethik-heute.org/selbstoptimierung-das-vermessene-ich/ [02.05.2024]

Selbstkultivierung statt Selbstoptimierung

In der „Bildrede vom Fruchtbringen“ – so ist Joh 15,1-17 überschrieben – geht es um die Überraschungen des Lebens und darum, wie Du Dich ihnen öffnen, wie Du ihnen begegnen und wie Du selbst zu einer Überraschung des Lebens für andere werden kannst. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist der Verzicht auf die „Tauschbörsen“ des Lebens.

Der Münchner Philosoph Krisha Kops unterscheidet zwischen Selbstoptimierung und Selbstkultivierung.[1]  Selbstoptimierung, ein Leben im maßlosen schneller, höher, weiter, entspricht dem „vermessenen Ich“ (Du hörst schon die Zweideutigkeit dieses Wortes!). Der in der Selbstoptimierung lebende Mensch wird die Schokolade (vielleicht sogar die Verpackung) genießen, dann am kleinen gelben Ei schütteln und seinen Inhalt zu raten versuchen; und dann wird er sich seine „Überraschungen“ zusammensammeln, seinen Vorstellungen entsprechend, seinen Wünschen und Erwartungen. Letztlich wird das Überraschungs-Ei, letztlich wird das Leben mit all seinen Begegnungen in all ihren Verpackung zur „Geschmackssache“; und zu aller Letzt wird die Überraschung des Lebens zum Mittel der eigenen Wunscherfüllung missbraucht, getauscht, vielleicht auch weggeworfen.

Der in der Selbstkultivierung lebende Mensch wird ebenso die Schokolade (vielleicht sogar die Verpackung) genießen, wird ebenso am kleinen gelben Ei schütteln und seinen Inhalt zu raten versuchen; aber dann wird er seine „Überraschung“ zusammenbauen, ihr einen Platz in seinem Leben geben, vielleicht die Figuren neu gruppieren. Ihn unterscheidet, dass er mit dem, was ihm begegnet, was er empfängt, was auf ihm zukommt, was er „auspackt“, in Kontakt geht, in Kontakt bleibt, so, dass fast eine Form von „Wir“ entsteht: “Ich für Dich/mit Dir“ bzw. „Du mit mir/für mich“. Wenn es zum Tausch kommt, dann sicher über persönlichen, nicht über digitalisierten Kontakt.

Der Wunsch geht dem in der Selbstkultivierung lebenden Menschen nicht auf ein „das, was ich mir erhoffe und was ich will“ hin, sondern auf ein „mit dem, was/wer mir begegnet, werde ich meinem Leben eine Form geben“ (zugegeben: dazu eignen sich die gebastelten Figuren aus den Ü-Eiern, wenig, schau bitte darüber hinweg.)

Beide Haltungen, Selbstoptimierung und Selbstkultivierung, bedeuten Arbeit. Die Zielrichtungen, die Ausrichtung der Arbeit ist jedoch völlig verschieden. So ist es auch beim Christsein, glaube ich. Eine sprachlich schöne Unterscheidung, wie ich finde, ist: Selbstoptimierung erfordert Training, Selbstkultivierung erfordert Übung. Ob du die Unterschiede ahnst?

» Ach, Malte, wir gehen so hin, und mir kommt vor, dass alle zerstreut sind und beschäftigt, und nicht recht achtgeben, wenn wir hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und keiner hat sich was gewünscht. Vergiss nie, dir etwas zu wünschen, Malte. Wünschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es gibt keine Erfüllung, aber es gibt Wünsche, die lange vorhalten, das ganze Leben lang, so dass man die Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte. «
Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd.5, Erste Abteilung: Prosa, 2. Aufl., 109-346, hier: 188.

Der Wunsch nach dem Wunsch

Jesus äußert am Ende des heutigen Evangeliums einen Wunsch, gibt beinahe einen Auftrag weiter: „Dies trage ich Euch auf: Liebt einander!“ (Joh 15,17) Dieser Wunsch gehört für einen spirituellen Menschen ins Feld der Selbstkultivierung, nicht ins Feld der Selbstoptimierung. „Ich habe Euch erwählt und dazu bestimmt, dass Ihr Euch aufmacht und Frucht bringt und dass Eure Frucht bleibt“ (Joh 15,16). Selbstoptimierung ist maßlos. Wie wollen die Jünger, wie will die Kirche, wie willst Du als Christ oder Christin ein Maß an Dein Christsein legen? Magst Du die „Gottesdienstbesucher“ zählen, oder die „Ortskirchensteuer“ oder die „Osterkommunionen“?

Selbstkultivierung lebt von Muße, von Wiederholung und bleibt unverfügbar. Wenn Dir jemand begegnet oder auf Dich zukommt, wie die „Kinder-Überraschung“, dann schau, dass Dein Reden und Tun Frucht trägt. Wenn das Leben seine Kapriolen mit Dir schlägt, dann sei eingeübt, damit es Dich nicht aus den Schuhen wirft. Das wünsche, dass der Geschmack am Christsein, – es ist der Geschmack am Leben –, Dir erhalten bleibt und Du andere zu diesem Geschmack hinzuführen vermagst.

Wieder ist Rainer Maria Rilke, der auch für diese Haltung aus Glauben heraus seine Sprache zur Verfügung stellen kann. In den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ erinnert sich Malte an ein Gespräch mit seiner Mutter über deren früh verstorbene Schwester Ingeborg, die ihrem eigenen Sterben ins Angesicht sah und ihre Familie dadurch sehr entlastete. Ein wenig klingt in den „Aufzeichnungen“ der Ton von Joh 15 an, wenn die Mutter zu ihrem Sohn Malte spricht: „Ach, Malte, wir gehen so hin, und mir kommt vor, dass alle zerstreut sind und beschäftigt, und nicht recht achtgeben, wenn wir hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und keiner hat sich was gewünscht. Vergiss nie, dir etwas zu wünschen, Malte. Wünschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es gibt keine Erfüllung, aber es gibt Wünsche, die lange vorhalten, das ganze Leben lang, so dass man die Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte.“[2]

Wünschen, das soll man nicht aufgeben! In der christlichen spirituellen Tradition gibt es ein Wort, das ich Dir mitgeben möchte. Es geht um die Sehnsucht nach der Sehnsucht, auf Latein „desiderium desiderii“: Ein Novize kommt zu Ignatius und gesteht, nicht beten zu können. Er schildert seine wenigen Höhen, mehr seine unzähligen Tiefen. Ignatius fragt: Hast Du denn Sehnsucht, beten zu können. Der Novize (der „Selbstoptimierer“ in ihm) gesteht, dass er das von sich auch nicht sagen könne. Und ob er denn die Sehnsucht habe, diese Sehnsucht bei sich zu finden, fragt Ignatius. Das könne er (der „Selbstkultivierer“ in ihm), und verlässt den Ignatius wohlgemut.

Christsein – wie ein Überraschungs-Ei. Du darfst wünschen, dass mit Verpackung, Schokolade und „Überraschung“ alles gut ist für Dich, wer wollte Dich hindern? Aber dann vergiss die Worte Jesu aus dem heutigen Evangelium nicht: „Bleibt in meiner Liebe!“ – „Damit meine Freude in Euch ist und damit Eure Freude vollkommen wird.“ – „Liebt einander, wie ich Euch geliebt habe.“ „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde.“ – „Ich habe Euch Freunde genannt.“ – „Ich habe Euch erwählt und dazu bestimmt, dass Ihr Euch aufmacht und Frucht bringt und dass Eure Frucht bleibt.“ – „Das trage ich Euch auf, dass Ihr einander liebt.“

Lass Diese Worte – selbstkultivierend, nicht selbstoptimierend – Fleisch bekommen in Deinem Leben. Und wenn es sich nicht einstellt, dann wünschen, dass diese Worte Fleisch bekommen in Deinem Leben. Und wenn das nicht hilft, wünschen, es wünschen zu können.

Amen.

Köln, 02.05.2024
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://ethik-heute.org/selbstoptimierung-das-vermessene-ich/ [02.05.2024]

[2] Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rilke, Rainer Maria, Sämtliche Werke, Bd. III-1, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 188.