Rezension zu: El-Mafaalani, Aladin (2021): Wozu Rassismus?

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Ein Buch, fast wie ein Kaleidoskop

Sie kennen – wahrscheinlich als ein Kinderspielzeug aus alten Tagen –  das Kaleidoskop?[1] Da können Sie in ein Rohr schauen, an dessen einen Ende sich zwischen einer glatten und einer mattierten Glasplatte kleine, farbige Objekte (meist aus farbigem Glas) befinden – ins andere Ende schauen Sie hinein, und wenn Sie das Rohr drehen, sehen Sie auf 3-4 im Rohr eingefügten Spiegelstreifen, wie dieselben farbigen Objekte immer neue Formen bilden und dabei dank der Spiegelstreifen ein symmetrisches Muster bilden. Was soll ich es lang erklären, Sie wissen, Sie kennen es bestimmt selbst.

Aber Achtung: Das Wort „Kaleidoskop“ sagt schon in seiner etymologischen Herkunft aus, was es leistet: das griech. καλός meint „schön“; das griech. εἶδος ist das Wort für „Form“ oder für „Gestalt“, und das griech. σκοπεῖν heißt „schauen“, „sehen“, „betrachten“.

Es sei gleich vorangestellt, dass der Kaleidoskop-Vergleich sich ausschließlich auf die Form des Buches bezieht. Die Gliederung des von Aladin El-Mafaalani angebotenen Stoffes im Inhaltsverzeichnis ist – rein formal gesehen – schön. Viele bunte Steinchen des „Gegenstands“, des Rassismus, werden sofort deutlich, und in den acht inhaltlich werden sie ordentlich zu immer neuen Gestalten oder Erscheinungsweisen durcheinandergeschüttelt, bilden dabei aufeinander bezogene neue Muster, die als in sich zusammenhängend sofort betrachtet, beschrieben, benannt und erkannt werden können. Das Inhaltsverzeichnis in seiner Gliederung – für mich ein Meisterstück.

» Man kann sogar so weit gehen, dass Rassismus dafür sorgt, dass bestimmte Menschen immer fremd bleiben, weil ‚fremd‘ durch ‚anders/minderwertig‘ ersetzt wird und damit ein dauerhaftes Herrschaftsverhältnis entsteht – das Prinzip des Othering bzw. der VerAnderung. [...] Rassismus [...] ist nicht Natur, sondern Kultur. Er kanalisiert Ängste, bietet Orientierung, stärkt den Selbstwert durch Hierarchiebildung. Er hat kulturelle Funktionen: Er funktioniert und ist in dieser Hinsicht für Herrschende und Privilegierte eine ständige, eine strukturelle Versuchung. «
El-Mafalaani, Aladin (2021) Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Köln, 43.

Geschichte und Systematik des Rassismus

Was für die Form gilt, gilt ausdrücklich nicht für den Inhalt. Da ist nichts „Schönes“ zu erwarten. Im Gegenteil: Wenn es den Begriff „Eidoskop“ gäbe, könnte man ihn hier anwenden. Die Erscheinungsform („ εἶδος“) – ist hier der Singular oder der Plural mehr richtig? – kommt zur Schau („σκοπεῖν“). Aladin El-Mafaalani bietet mit seiner Untersuchung eine Sehschule des Rassismus, historisch wie systematisch, an. (Da kann noch einmal das „σκοπεῖν“ i.S.v. „schauen“, „sehen“, „betrachten“ aufgegriffen werden).

Der Begriff des Rassismus wird im ersten Kapitel erklärt, den Wortlaut finden Sie am Ende der Rezension. Das zweite Kapitel schließt mit geschichtlich gewachsenen Formen des Rassismus im Kolonialismus und in der Erfindung der Rassenlehre an (hier geht es um das „εἶδος“, um die „Form“ oder für „Gestalt“ des historischen Rassismus).

Historisch scheinen die geschichtlich gewachsenen Formen des Rassismus heute zwar überwunden, in ihrer Wirkungsgeschichte gilt dies nicht! Im dritten und darauf aufbauend im vierten Kapitel beschreibt El-Mafaalani den strukturellen Rassismus (in Sprache, Wissen, Sozialstruktur und Wertesystem), um dann darüber aufzuklären, wie auch gegenwärtig noch rassistische Diskriminierung als Prozess wirkt (z.B. im Denken, im Handeln, in der Intention, immer als Macht). Rassistisch diskriminieren sei eine Handlung dann, wenn man einem oder mehreren Menschen aufgrund von kulturellen oder biologischen Merkmalen gruppenbezogene Eigenschaften zuschreibt und diese Zuschreibung dann zu Abwertung und schließlich zu Ausgrenzung führt. Und damit sei der Prozesscharakter von Diskriminierung idealtypisch erfasst: Kategorisierung, Abwertung, Ausgrenzung. (vgl. S. 58, Hervorhebung durch H.K.)

Ganz ähnlich geht El-Mafaalani im fünften und sechsten Kapitel vor. Von institutionellem Rassismus ist dann die Rede, wenn dieser Prozesscharakter von Diskriminierung in Organisationen, Sektoren oder Branchen regelhaftauftritt. Das kann überall geschehen, z.B. an der Discotür, im Restaurant, bei Polizeieinsätzen, im Bäckerladen und selbst in Arztpraxen. Immer noch gilt der Begriff der Sehschule – nehme ich diese strukturell verankerte Handlungsform wahr? Und dann: Wie gehe ich damit um? Hat es persönliche und soziale Folgen, für mich in der Rolle als „potenziell helfende Person“, aber auch für mich als „Opfer- Person“ bzw. als „Täter-Person“? Sie merken im Vergleich mit dem Kaleidoskop: hier bleibt nur noch die „Form“ des Geschehens und das „Sehen“, das Wahrnehmen – dem allerdings ein Handeln folgen kann, El-Mafaalani spricht weiter hinten hoffnungsvoll vom „rassismuskritischen Widerstand“.

Drei zwar das Vorherige aufgreifende und darauf aufbauende, aber auch für sich alleinstehende Kapitel schließen das Buch ab. El -Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien. Es überrascht daher nicht, dass das siebte Kapitel sich mit Rassismus als pädagogischer Herausforderung beschäftigt. Rassismus tauche im pädagogischen Sektor sicher auch als institutioneller Rassismus auf. Aber auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen innerhalb der Bildungsinstitutionen spiele er eine Rolle. Diese fänden auf dem Pausenhof (zwischen den Kindern) im Klassenzimmer (zwischen Lehrkräften und Kindern) und im Lehrerzimmer (zwischen den Lehrkräften) statt (vgl. 105f). Der erste Schritt auf dem Weg zur Bewältigung dieses Problems sei Kommunikation und Entwicklung eines Problembewusstseins. Es gehe also um die Thematisierung. Ein wesentlicher Teil dessen ist die Thematisierung von Rassismuserfahrungen von Schüler:innen (vgl. 106).

Im achten Kapitel zeigt der Autor die Notwendigkeit, aber auch gleichzeitig die Schwierigkeiten auf, über Rassismus zu sprechen. Der Diskurs über Rassismus habe den Mainstream erreicht, was notwendigerweise zu einem gewissen Niveauverlust im Diskurs führe, so El-Mafaalani (vgl. 141).Vier Dethematisierungsmuster unterliefen den Diskurs über Rassismus: Skandalisierung, Kulturalisierung, Gleichsetzung mit Rechtsextremismus und Gleichsetzung mit historischem Nationalsozialismus (und wieder, in einer Art formalen Kaleidoskops), werden alle Begriffe erläutert und mit Beispielen belegt, was einerseits zu unterdrückten und andererseits zu überhitzten Diskursen führe.

Das letzte inhaltliche Kapitel gilt der Rassismuskritik u d dem rassismuskritischen Widerstand. Die drei Untertitel „Wissen, Haltung, Praxis“ werden, wie alle anderen Kapitel im Buch, inhaltlich erläutert und methodisch gefüllt. Zusammenfassend schreibt El-Mafaalani: „„Rassismuskritik führt zu mehreren (neueren) Prinzipien, die den Widersprüchlichkeiten, Wechselbeziehungen und der Komplexität Rechnung tragen. Von zentraler Bedeutung ist (a) die Erkenntnis, dass Rassismus strukturell in Kultur und Gesellschaft verankert ist, wodurch jede:r auch immer persönlich und organisational involviert ist, ob sie oder er will oder nicht. […] Wer nicht rassistisch sein möchte, muss sich mit Rassismus auseinandersetzen, darüber sprechen und aktiv werden. Niemand muss sich rechtfertigen, dass er oder sie rassistisch denkt und handelt, sondern nur, wenn sie oder er nichts daran ändert. Ändern bedeutet Thematisieren. Daher gehört (b) das Bewusstsein dazu, dass man Rassismus thematisieren muss, man aber auch durch diese Thematisierung den Rassismus reproduziert. Die Thematisierung ist also in sich widersprüchlich, aber notwendig. […] Wer behauptet, farbenblind zu sein, läuft Gefahr, blind gegenüber Rassismus zu sein. Rassismuskritik ist also eine Haltung, die reflexiv erfasst, dass das Sprechen über Rassismus notwendig ist, es aber zugleich zur Reproduktion rassistischer Denkmuster führt. Damit sind wir (c) bei der Mehrperspektivität beziehungsweise der Perspektivenerweiterung. Denn es geht bei Weitem nicht mehr nur um die Benachteiligung der Benachteiligten, sondern auch um die Privilegien der Privilegierten. […] Diese Perspektivenerweiterung bezieht sich auf Inhalt, Form und Sprecher:innen, also Repräsentanz. Worüber wird gesprochen, und was wird gesagt? Wie wird es gesagt? Aber zunehmend geht es auch um die Repräsentation, also um die Frage: Wer spricht?“ (142f)

» Rassismus benachteiligt, entwürdigt, macht krank. Rassismus tötet. «
El-Mafalaani, Aladin (2021) Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Köln, 7.

Was angestoßen werden kann

Was stößt El-Mafaalanis Untersuchung bei mir an? Was nehme ich mit aus der Beschäftigung mit dem Buch und mit dessen Autor? Was wünsche ich denen, die das Buch durcharbeiten?

Als erstes das Staunen über die eigene Blindheit vor den Dethematisierungsmuster bezüglich des Diskurses über Rassismus: Skandalisierung, Kulturalisierung, Gleichsetzung mit Rechtsextremismus und Gleichsetzung mit historischem Nationalsozialismus bei einzelnen (sagen wir mal) „Zwischenfällen“ macht blind für den strukturellen und den institutionellen Rassismus!

Als zweites die Freude über eine Metapher, die El-Mafaalani einigemal im Buch bemüht: „Um die Entwicklung der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten darzustellen,  habe ich vielfach die Raum-Tisch-Metapher verwendet, Zunächst saßen Migrant:innen beziehungsweise PoC (mit allen anderen benachteiligten Gruppen) auf dem Boden, im Laufe der Zeit setzten sich viele von ihnen (insbesondere die Nachfolgegenerationen) an den Tisch, wollten einen schönen Platz am Tisch und ein Stück vom Kuchen, heute sind wir an dem Punkt, dass einigen von ihnen (häufig wiederum aus der jüngeren Generation) das nicht mehr reicht und sie vielmehr eine Veränderung des Kuchenrezepts, der Esskultur und der Tischordnung anstreben. Diese drei Realitäten (Boden, Tisch, Rezeptur) bestehen gleichzeitig, weil es weiterhin Migration gibt, sie bauen aber auch aufeinander auf und erfordern sehr unterschiedliche Maßnahmen und Strategien.“ (98f)

Und drittens die Reichweite und die Klarheit der Definition von Rassismus, die der Autor einer niederländischen Soziologin, Philomena Essed[2], verdankt. Man könnte Wort für Wort der Betrachtung anheimgeben, um so dem Verständnis von Rassismus und seinen Folgen auf die Spur zu kommen: „Rassismus ist ‚eine Ideologie, eine Strukturund ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ‚Rassen‘ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.“

Eine „Zu-Gabe“, die sich mir zum Nachdenken anbietet: Es lohnt, die vielen Menschengruppen aller Art in den Blick zu nehmen, die überhaupt nicht in das „Muster“ des Rassismus fallen, die dennoch vom Prozesscharakter von Diskriminierung gefangen sind durch den Dreischritt von Kategorisierung, Abwertung und Ausgrenzung. Es wäre zu billig, hier Beispiele aus meiner Kenntnis aufzuzählen. Aber schauen Sie sich in Ihrem Umfeld einmal um, wem da „etwas“ zugeschrieben wird, über das sich viele „erheben“ und dann noch vielfältigere Formen von „Ausgrenzungen“ betreiben. Dieses Diskriminierungsgeschehen scheint mir eine Schwester oder ein Bruder des strukturellen aber auch des institutionellen Rassismus zu sein.

Ein Letztes: El-Mafaalani beginnt sein Buch, sein Vorwort mit dem Satz: „Rassismus benachteiligt, entwürdigt, macht krank. Rassismus tötet.“ (7) Und er endet mit „Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten: Rassismus tötet. Die Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland seit 1990: [es folgen jetzt im mehr als 200 Namen, beinahe zwei Seiten] (152-154).

Ich bleibe dabei: Ein Buch wie ein Kaleidoskop – oder eher doch ein „Eidoskop“.

Köln, 31.03.2023
Harald Klein

[1] Bei der Beschreibung des Kaleidoskops greife ich zurück auf den entsprechenden Artikel in Wikipedia [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Kaleidoskop [21.03.2023]

[2] Essed, Philomena (1992): Multikulturalismus und kultureller Rassismus in den Niederlanden. In: Institut für Migrations- und Rassismusforschung (Hrsg.), Rassismus und Migration in Europa, Hamburg. – Hervorhebungen im Text von H.K.