Rezension zu: Welzer, Harald (2021): Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, 6. Aufl., Frankfurt/Main

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Die vergessene „Kultur des Aufhörens“

Das Cover ist Programm! Von oben links fällt das Tageslicht über Augen und Stirn des Verfassers, der sich frontal dem das Buch Betrachtenden im sommerlichen Polohemd zuwendet, und außer Augen und Stirn geht alles andere des fotografierten Autors ein wenig im Schatten des Fotos unter. Und nicht nur das. Das Cover weist neben dem Verlag nur Name und den ersten Teil des Buchtitels auf: „Harald Welzer“ und „Nachruf auf mich selbst“, erschienen bei S. Fischer, Frankfurt/Main. Erst das Blättern im Buch verrät den Untertitel, der die Zielrichtung des Buches angibt: „Die Kultur des Aufhörens“. Auch der so wichtige Untertitel scheint „vergessen“, zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Das ist, glaube ich, Programm!

Ich lese das Buch auf dem Hintergrund seiner möglichen Impulse für eine „Spiritualität für Soziale Berufe“. Da spricht mich der Untertitel „Die Kultur des Aufhörens“ im ersten Moment mehr an als die Möglichkeit eines „Nachrufs auf mich selbst“. Aber jetzt der Reihe nach.

Aufbau und Inhalt

Im ersten von vier Teilen liefert Welzer eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, wie er sie erlebt und nach einem erlittenen Herzinfarkt neu deutet. „Weg von hier“ meint den Aufbruch und das Hinter-sich-lassen einer Kultur, die sich in Sachen „Fortschritt“ und „Wachstum“ ständig übersteigt – „Überstieg“ und „Transzendenz“ meint hier, um meine eigenen Worte zu benutzen, Wachstum des Gleichen: schneller, höher, weiter sind die Maximen. „Wachstum“ ist ein anderer Name für den Gott der Standardökonomie, die mehr einer Art „Priestertum“ als einer „Wissenschaft“ gleiche (vgl. S. 17). Für Welzer sind zwei Begriffe leitend: der des „Wagenhebereffekts“ besagt, dass jede Generation nicht bei null oder neu anfängt, sondern dort, wo die vorangegangene aufgehört hat (vgl. S. 13f); und „Weltreichweite“ (nach Hartmut Rosa) meint, dass Menschen mit wachsendem Wohlstand und jeweils neuer Technologie immer neue Möglichkeiten finden, über die Welt zu verfügen (S. 76). Beide Begriffe zielen auf ein „weiter so“ des Bisherigen, das immer noch ausbaufähig zu sein scheint.

Seit mehreren Jahrzehnten ist die Mahnung zu hören, es sei, was die Ausbeutung der Welt und die Bedrohung des Klimas angeht, „5 vor 12“. Welzer betont, es sei an der Zeit, mit dem Mahnen und Warnen aufzuhören, es habe sich nicht das Geringste getan, und – im Gegenteil – es sei zu beobachten, dass „der Wille zum Weltverbrauch mit der Intensität der Mahnungen und Warnungen offensichtlich nicht ab-, sondern zunimmt.“ (84) Um den Modus des Handelns nach außen (und innen) weiter behaupten und ausbauen zu können, ersetze man Handlungen durch Ziele – und schreibt so den Irrtum fest, dass Zukunftsprobleme Probleme seien, die man in Zukunft lösen müsse (vgl. 68-70). Welzer macht klar: Handlungen müssen her, keine Ziele – und Aufhören ist auch eine Handlung!

Der zweite Teil des Buchs ist überschrieben mit „Geschichten vom Aufhören und vom Leben“. Der Autor stellt Personen aus Öffentlichkeit und aus seinem privaten Umfeld vor, die erkannt haben, dass „Fortschritt“ und „kontinuierliche Ausweitung der Weltreichweite und Weltbeherrschung“ letztlich „tödlich“ sind, um welchen Tod es sich hier auch immer handelt. Rückbau, Rückschritte, Abbau oder Aufhören passen nicht in die Vorstellung der Moderne mit ihrem bedingungslosen Fortschrittsglauben – und doch haben die hier vorgestellten Menschen diesen Schritt vollzogen, um des Lebens willen (vgl. 159f)! Die ars moriendi, die Kunst des Sterbens (i.S.v. Aufhören), wird zur Voraussetzung, um gut leben zu können (vgl. 190f).

Der dritte Teil ist ein persönliches Bekenntnis des Autors. Es ist überschrieben mit „Nachruf auf mein zu lebendes Leben“. Fünfzehn kleine Kapitel beginnen mit den Worten „Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht…“. Welzer umschreibt Haltungen wie „Er hatte gelernt, das Optimieren zu lassen“ (215), „Er war immer radikal, aber doch jederzeit bereit, inkonsequent zu sein“ (229) oder „Er hat einen Unterschied gemacht“ (235). Hier wird deutlich, um was es in einem „Nachruf auf mich selbst“ geht. Individuen, aber auch ganze moderne Gesellschaften können und müssten „Nachrufe auf sich selbst schreiben, in denen sie entwerfen, wie sie sich entwickelt haben werden wollen. Das hört sich grammatisch schwierig an, aber so eine Rückschau aus einer imaginierten Zukunft bricht die Diktatur der Gegenwart, in der zu viele Entscheidungen aus dem kulturellen Unterbewusstsein heraus getroffen werden“ (18f).

Der Gewinn hinsichtlich einer Spiritualität für Soziale Berufe

Welzers Appell kann für eine Spiritualität für Soziale Berufe zuerst vom „Wagenhebereffekt“ verstanden werden. Die Zukunft ist nach Welzer eine Gestaltungsaufgabe, kein Fortschreiben und Entwickeln, kein Weitermachen wie bisher mit optimierenden Vorzeichen. Es geht nicht ohne eine Kultur des Aufhörens. Jede Generation, jedes Individuum kann um des Lebens willen mit dem „Wagenhebereffekt“ aufhören.

Auch der zitierte Begriff der „Weltreichweite“ (Hartmut Rosa) gibt zu denken. Wenngleich es weniger um wachsenden Wohlstand und neue Technologien geht, so kann der Begriff doch Impulse geben, nach der Wirksamkeit der eigenen Spiritualität oder der Spiritualität einer Gruppe zu fragen – und nach deren „Reichweite“ und auch „Richtung“. Wie steht es um die Kultur des Aufhörens, wenn es um die eigene gewachsene und gewordene Spiritualität geht? Worauf zielt sie, wo geht es hin?

Schließlich das Mittel des „Nachrufs auf sich selbst“. Es wird zu einem produktiven Entwurf aus einer imaginierten Zukunft, der eine Selbstverpflichtung sowohl zum Tun als auch – und vor allem – zum Lassen gleichkommt und die Persönlichkeit bzw. die Gesellschaft anstrebt, auf die hin sich der/die einzelne, aber auch die Gesellschaft als Ganze entwickelt haben werden will. Von hier aus kann mittels des „Wagenhebereffekts“ der Ansatzpunkt für den/die oder das bezeichnet werden, auf das hin man sich selbst oder die Gesellschaft als Ganzen entwickelt haben werden will. Und auch die „Weltreichweite“ der eigenen Spiritualität oder die der Gruppe kann untersucht und im Sinne dieses „Nachrufes“ neu positioniert und entwickelt werden.

Wer will ich gewesen sein? – Zwölf Merksätze

Welzer beendet das Buch mit zwölf Merksätzen zur Beantwortung der Frage: Wer will ich gewesen sein? Die Merksätze lauten:

„Das Leben hat mich gewagt.
Der Raum der Veränderung ist innerhalb, nicht außerhalb unserer Grenzen.
Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft.
Ziele sind keine Handlungen.
Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können.
Aufhören sichert das Erreichte, weitermachen banalisiert es.
Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter.
Mit Konjunktiven auch nicht.
Das Wort ‚eigentlich‘ ist zu vermeiden.
Die Bedeutung eines Lebens hängt nicht von seiner Dauer ab.
Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden.
Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und nur da.“ (265)

Ein kurzes Fazit

Wie gesagt: Das Cover ist Programm! Es gehört zu einer Kultur des Aufhörens, nicht nur das Augenfällige zu sehen. Es kann sein, dass sich hinter dem Augenfälligen noch etwas Zweites verbirg, das nicht anschlussfähig scheint und doch Wege eröffnet. Hier ist es die „Kultur des Aufhörens“ in einer postmodernen Gesellschaft.

Und: grammatisch schwer, lebensmäßig auch – und doch lohnend: Der Entwurf, wie ich mich entwickelt haben werden will – und der Blick aus der imaginierten Zukunft auf mich selbst, auf die Meinen und auf meine und unsere Welt. Da lohnen die Lektüre, das Nachsinnen und das innere Gespräch mit Harald Welzer.

Köln, 01.06.2022
Harald Klein