Überschwellige Apokalypse-Blindheit

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Hintergrund

Der Philosoph Günther Anders (1902-1992) hat angesichts einer sich immer monströser sich ausbreitenden Technik und deren Konsequenzen für den Menschen gearbeitet. So entstand in den 50er Jahren sein zweibändiges Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“. Nach einem Besuch in Nagasaki und Hiroshima und angesichts der unglaublichen Folgen an Zerstörung, den der erste Abwurf von Atombomben mit sich brachte, prägte er in diesem Werk drei Begriffe, die auch angesichts der gegenwärtigen politischen Lage und des Krieges seitens Russlands auf die Ukraine hin angewendet werden können. Gemeint sind der Begriff des „Überschwelligen“, der Begriff der „Apokalypse-Blindheit“ und das Phänomen des „prometheischen Gefälles“.[1]

Gegenwärtig wird viel darüber gesprochen, ob und wie Eltern mit Kindern über die Situation in der Ukraine reden sollen. Was fehlt, ist die gleiche Frage auf Erwachsene hin. Wie reden wir – auch im Gefährtenkreis – reflektiert und unter Anerkennung von vielleicht nur geringem rationalem Wissen, unter Anerkennung der Emotionen in uns und unter Anerkennung der Unsicherheiten über die Situation?

Der Impuls:

„Überschwellig“: In Unterscheidung zu „unterschwellig“ als Gespür von etwas, was unbewusst vorhanden und wirkend erlebt und (zumindest mit-) erfahren wird, meint „überschwellig“ bei Günther Anders all das, was in seinem Geschehen und in seinen Konsequenzen durch unsere Vorstellungskraft auf absehbare Zeit wegen seiner „Größe“, seiner „Monstrosität“ nicht zu erfassen ist. Die Phänomene sind zu komplex, zu umfassend, als dass sie begriffen oder in ihren Auswirkungen durchschaut werden können. Das „Ich kann es nicht fassen…“ bzw. das „Ich kann es nicht begreifen“ bekommt eine eigentümliche Bedeutung.

„Apokalypse-Blindheit“: Die Monstrosität des kriegerischen Einfalls Russlands in die Ukraine, aber auch andere Krisen auf gesellschaftlich-politischer Ebene (Möglichkeit eines Atomkrieges, Klimakrise, die Frage nach der Rolle der Künstlichen Intelligenz etc.) wie auch der privaten Ebene (Pandemie und andere Formen von Bedrohung durch Krankheit, Trennung und Scheidung, Erfahrung von Tod, Verlusterfahrungen etc.), die als persönliche Apokalypse erfahren werden, werden unbewusst ausgeblendet, um „am Leben zu bleiben“.

„Prometheisches Gefälle“: Der Begriff meint bei Anders den „paradoxe(n) Umstand, dass wir grundsätzlich mehr herstellen als uns vorstellen oder verarbeiten können.“[2] Die artifiziellen Geschöpfe wachsen dem Menschen über den Kopf und wenden sich schließlich gegen ihn.

Für den Austausch:

  1. Welche Bilder aus dem Krieg in der Ukraine „sehe“ ich, welche Berichte „höre“ ich, was geht mir nach, welche Empfindungen löst das aus und welche Informationen nehme ich (überhaupt noch) auf?
  2. Erleben des „Überschwelligen“: Wie bringe ich ins Wort, was ich „nicht fassen“, „nicht begreifen“ kann?
  3. Gibt es Parallelen zu „Apokalypsen“ auf gesellschaftlich-politischer und auf privater Ebene? Gibt es persönliche Erfahrungen des „prometheischen Gefälles“, die ich in den Austausch bringen kann?

Ein Lösungsvorschlag als Gegenmittel gegen die Apokalypse-Blindheit wird „moralische Phantasie“ ins Feld geführt. Auch wenn das Über- und Unterschwellige alle Vorstellungskraft sprengt, bleibt nichts anderes übrig als diese Vorstellungskraft zu trainieren und nach dem Erkannten zu handeln, um Über- und Unterschwelliges zu tragen, ggf. zu gestalten und der Apokalypse-Blindheit zu entgehen.

Köln, 04.03.2022
Harald Klein

[1] Ich greife hier zurück auf einen Essay von Dr. Christian Dries: Pandemische Blindheit [online] https://www.katholische-akademie-freiburg.de/blog-2/detail/nachricht/id/128887-pandemische-blindheit/?cb-id=12156226 [04.03.2022]

[2] ebd.