Vierter Fastensonntag: Sehen lernen

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Gespräche? Am Abend!

Je älter ich werde, desto mehr glaube, nein erlebe ich, dass manches Tun zu manchen Zeiten des Tages besser passt als zu anderen, und dass manche Gespräche und mancher Austausch beinahe nur und ausschließlich an den Morgen, an den Nachmittag oder an den Abend gehören. Ich wage die These, dass alles Geschäftsmäßige, Planbare und Organisatorische eher am Vormittag, dass aber alles Private, inhaltlich angefragte oder geteilte deutlich besser dem Abend gemäß ist. Die Bitte „Lass uns reden!“ macht in sinnvoller Weise den Zeitpunkt des Gesprächs vom Inhalt des Gesprächs abhängig. Oder noch einfacher: Manches lässt sich besser beim Kaffee, anderes bei Lunch und wieder anderes bei einem Glas Wein besprechen, bedenken, beurteilen und entscheiden.

» Wissen ist ein intellektuelles Konzept, das wir zunächst auch nur mit unserem Intellekt greifen können. Weisheit hingegen ist verkörpertes Wissen. «
Weichand, Josefine [online] https://www.liebezweipunktnull.de/blog/wissen-vs-weisheit [06.03.2024]

Das Wissen des Nikodemus

Ob Johannes, der Evangelist das auch so sieht? Das Evangelium des heutigen Sonntags ist Teil des „Nikodemusgespräches“ Jesu. Der Pharisäer Nikodemus sucht Jesus bei Nacht auf – und vielleicht die die Deutung, er habe als führender Mann unter den Juden (Joh 3,1) Angst gehabt, gesehen zu werden, doch zu kurz gegriffen. Vielleicht ging es Nikodemus um Inhalte, die man eben nur am Abend, in der Nacht besprechen, bedenken, beurteilen und entscheiden kann, bei einem Glas Wein, wer weiß?

Wenn Du Dir diesen Dialog über 21 Verse hinweg anschaust, kannst Du meinen, Jesus und Nikodemus hätten ein Lehrbuch, einen Katechismus in der Hand gehabt. Nähmest Du Dir zwei Textmarker und markiertest gelb die „Lehrbuch-Inhalte“ Jesu und rot die des Nikodemus, es bliebe nicht viel unmarkierter Text übrig!

Das Nachtgespräch beginnt wie ein Seminar am Vormittag mit der These des Nikodemus: „Rabbi, wir wissen, Du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die Du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.“ Jesus zweifelt diese Form des Schulbuch- oder Katechismus-Wissens sofort an: „“Amen, Amen, ich sage Dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Und dann geht es in munterer Seminar-Manier noch einige Male hin und her – Du könntet es mit Deinen Textmarkern rot und gelb bunt und abwechselnd unterlegen. Erst in Vers 11f verlässt Jesus dieses eher dem Schulvormittag zuzuschreibende Unterrichtsgespräch und geht zur Weisheit eines Abendgespräches über.

» Ich lerne sehen, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. «
Rilke, Rainer Maria (1982): Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth-Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt/Main, 1982, Band III-1 Prosa, 110f.

Die Weisheit Jesu – das Sehen lernen

Ob Du den Wendepunkt auch so sehen magst wie ich? Für mich liegt er in Jesu Wort „Was wir wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen wir, und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. Wenn ich zu Euch über irdische Dinge gesprochen habe und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu Euch über himmlische Dinge spreche?“

Es ist schade, dass dieses ganze Vorspiel des Abendgespräches im Evangelium heute fehlt und es sofort mit dem Inhalt Jesu, mit dem er den „Vormittag“ des Gesprächs endet und den „Abend“ gestaltet, nicht anbietet. Da geht viel Verständnis verloren.

Das, was Jesus nun sagt, mag wie Lehrbuch- oder Katechismus-Wissen klingen, aber es geht Jesus nicht um ein Reden darüber, was er weiß, sondern um ein Bezeugen dessen, was er gesehen hat. Für mich ist das eine Unterscheidung zwischen bloßem Wissen und lebensgestaltender Weisheit. Und letzteres gehört in ein „Abendgespräch“. Den weiteren Inhalt der sieben Verse magst Du selbst lesen – es geht um das Geschenk des ewigen Lebens durch die Gnade des Glaubens.

Wie kommt Jesus zu dieser Weisheit, wie kommst Du und wie komme ich zu dieser lebensgestaltenden Weisheit, die qualitativ mehr ist als bloßes Wissen? Es hat, bietet Rainer Maria Rilke in seiner Prosaschrift „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ als Denkmöglichkeit an, mit der Weise des Sehens (und mit, so schließe ich, allen anderen Sinnen auch) auf die Welt zu tun. Ganz zu Beginn seiner Aufzeichnungen lässt Rilke seinen „Malte“ schreiben: „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nichts wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“[1]

Ich kann mir diese Worte und Empfindungen des Malte Laurids Brigge für Jesus in der Wüste und in der Versuchung, am Berg Tabor bei der Verklärung und beim Erleben des Tempels, der einem Warenhaus gleicht, ebenso vorstellen wie für Dich und mich, wenn das, was geschieht, tiefer in Dich und mich eingeht, wenn es nicht an der üblichen Stelle – der „haushaltsführenden Vernunft“ – stehenbleibt, sondern es in Dein bzw. mein Inneres vordringt. Es könnte Jesus sein, der sagt: „Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ Aber es könntest auch Du, es könnte auch ich sein. Darum geht es: Sehen lernen – am ehesten am Abend. Um Weisheit geht es, mehr als nur um Wissen. Einen schönen Abend Dir! Amen.

Köln,06.03.2024
Harald Klein

[1] Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd.5, Erste Abteilung: Prosa, 2. Aufl., 109-346, hier: 110.