Der Hörsaal – ein Gedankenexperiment
Stellen Sie sich eine Schale vor, auf die Sie von oben schauen, und schneiden Sie diese Schale in der Mitte durch: das Bild eines Hörsaals kann entstehen, wie man ihn noch aus alten Filmen kennt: der Audimax an der Katholischen Hochschule, Klappstühle, die in einigen „Rängen“ von unten nach oben gehen. Darauf knapp 150 Studierende, die meisten zwischen 20-25 Jahre alt, einige Frauen – erfahrungsgemäß Mütter, die ihre Kinder „aus dem Haus“ haben – und ganz wenig „Ü50“-Interessierte an der Sozialen Arbeit. Thema der Vorlesung: „Familien, Familienformen und familienähnliche Weisen des Zusammenlebens“. Ein paar Fragen aus der Vorlesung, einige Splitter aus meinen Mitschriften und Gesprächen am Rande seien hier wiedergegeben. Die Fragen, die uns Studierenden gestellt wurden, gebe ich dabei an Sie, die Lesenden weiter. Die Antworten sind nach der Vorlesung in einer Art „Selbstgespräch“ entstanden.
Ein „Bild“ von Familie
„Wenn Sie die Augen schließen und sich „Familie“ vorstellen, welches Bild zeigt sich Ihnen?“
Sicher zuerst die eigene Herkunftsfamilie. Woher sollte man denn als junger Mensch wissen, dass es auch „anders“ geht? Vater, Mutter, zwei Kinder, Mutter zu Hause, Garten, Haushalt, ein paar Nebeneinkünfte durchs Schneidern, der Vater im Schichtdienst bei der Bahn, sein ganzes Leben lang. „Die eigenen vier Wände“ – eine abgeschlossene, gelegentlich auch geöffnete kleine Welt. Der Zaun ums Haus steht sinnbildlich für „Grenzen“.
Das „Bild“ von Familie – in der Vergangenheit
„Was hätte sich Ihnen gezeigt, wenn ich Ihnen diese Frage, sagen wir einmal, 50, 100, 200 oder 400 Jahre früher diese Frage gestellt hätte?“
Ungewohnt jetzt das Erinnern an die Erzählung meiner Großmutter, die als Halbweise für ihre fünf Geschwister sorgen musste, der Vater als Handwerker mit der Kiepe auf dem Rücken durch den Westerwald ziehend, Bürsten und Körbe verkaufend. „Bürsten-Mark“ ist noch bis heute unser Name im Dorf. – Und kennzeichnend der Begriff des „Großen Hauses“, des Hofes, an dem neben der Familie des Bauern auch die Mägde, die Knechte und die „Kummergo“ (ledig gebliebene Schwester des Hofbesitzers mit einer „Kammer“, im Westerwald „Kummer“) lebten und sich um die Belange des Hauses in klaren Rollenverteilungen kümmerten. – Oder die Wohngemeinschaft eines meiner Großväter, der als Leiharbeiter sich während der Nachkriegszeit in Köln mit anderen Arbeitern in Köln ein Zimmer teilen musste und nur an wenigen Wochenenden nach Hause kommen konnte.
Gesellschaftliche Veränderungen im „Bild“ von Familie
„Die gesellschaftlichen Veränderungen sind es, die auch das Bild der Familie verändern. Kommen wir zurück in die Gegenwart. Haben Sie eine Vermutung, welche Veränderungen in den vergangenen Jahren das Bild von Familie verändert haben oder verändern werden?“
Das klassische Bild, das unsere Generation – der 50-60jährigen und älter – noch kennt ist: Kindheit mit Schule, Ausbildung oder Studium, Auszug von zu Hause, Heirat und Familiengründung (oft nach dem Muster „erst das Haus, dann die Kinder“), die Kinder gehen aus dem Haus, die „nachelterliche Phase“ wird gestaltet – „bis dass der Tod uns scheidet“.
In Familie leben heißt nicht mehr „dauernd zusammen leben“. Nach den 1960/70er Jahren gab es erste Veränderungen. Paare lebten längere Phasen – beruflich oder aus anderen Gründen – getrennt in zwei Haushalten. Paarbeziehungen „hielten“ nicht ein Leben lang, auch wenn man verheiratet war oder Kinder hatten.
Oder das „Drum prüfe, wer sich ewig bindet!“. Im Jahr 1950 wurden in Deutschland 750.00 Ehen im Standesamt geschlossen, dem standen 135.000 Scheidungen gegenüber. Im Jahr 2006 wurden 374.000 Ehen geschlossen, dem standen aber 191.00 Scheidungen gegenüber.
Etwa die Hälfte der Eltern-Kind-Beziehungen war 2003 im Osten Deutschlands nicht verheiratet, im Westen war dies zu dieser Zeit ein Viertel, aber mit steigender Tendenz. Nichteheliche Elternschaft entwickelt sich weitgehendst zur Normalität.
Das Verhältnis „Privatleben-Berufsleben“ ist komplizierter geworden. Lebensformen, die eine Berufstätigkeit beider Eheleute erschweren, sind unattraktiver geworden. Gerade bei Frauen erfolgt der Wechsel zwischen Familienphase und Erwerbshase immer schneller. Das alte „Drei-Phasen-Modell“ (Berufsausbildung/Berufstätigkeit – Familienleben – Wiedereinstieg in den Beruf) verschwindet beinahe, da die Mütter während der Familienphase arbeiten gehen.
Und vor allem: je weiter wir an die Gegenwart herankommen, umso größer ist die Toleranz und Akzeptanz neuer Formen des Zusammenlebens und der Kindererziehung.
Familien-Konstellationen
„Die Familienforschung bringt ganz verschiedene Konstellationen ans Licht, in denen Familien heute leben. Können Sie einige Familienformen benennen und beschreiben?“
Man spricht heute von der Kernfamilie und bezeichnet damit idealerweise die Ehe von Frau und Mann mit ihren gemeinsamen Kindern, die auf Dauer geschlossen wird. Die Ein-Eltern-Familie ist ein eher unglückliches Wort für Alleinerziehende, sei es nach einer Trennung, sei es ohne je verheiratet gewesen zu sein. Die Patchwork-Familie bezeichnet Familie, in denen Kinder mit einem leiblichen Elternteil mit einem neuen Partner der Mutter, einer Partnerin des Vaters, ggf. auch mit dessen leiblichen Kindern zusammenleben. Regenbogenfamilien sind Familien, in denen gleichgeschlechtliche Elternteile mit ihren Kindern zusammenleben, auch hier ist es egal, ob es adoptierte Kinder oder Kinder aus früheren Kernfamilien sind. Von Familie wird immer erst dann gesprochen, wenn es sich um ein Zusammenleben von mindestens zwei Generationen handelt, dabei spielt der Trauschein keine entscheidende Rolle mehr. „Familie“ kann heute auch beim Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft oder in einem Mehrgenerationenhaus erlebt und erfahren werden.
Was verbindet die verschiedenen Konstellationen?
„Man erkennt in den Formen gelebten Familienlebens gravierende äußere Unterschiede. Gibt es etwas oder sogar einiges, was diese Familien zusammenhält, was sie trotz unterschiedlicher Lebensform doch auch verbindet?“
Familie ist der Ort, wo man hin gehört, wo man sich umeinander kümmert. Gemeinsame Geschichte, gemeinsame Sprache, gemeinsame Werte und Wege, sie zu leben, gemeinsame Riten bilden so etwas wie ein Gerüst einer Familie, das dann mit Leben gefüllt werden muss. Zur Familie gehört immer auch eine rechtliche Dimension – hier setzte ja das Lebenspartnerschaftsgesetz an, hierhin gehören auch die Vorsorgevollmachten, die ja vor allem für die große Zahl der nicht Verheirateten eine Rolle spielen.
Die Psychologie kennt zehn Regeln, die helfen, damit familiäres Zusammenleben gelingt: Zeit füreinander nehmen – das WIR-Gefühl stärken – Familienkonferenzen – Vertrauen aufbauen – Streitkultur entwickeln – Gegensätze tolerieren – feste Aufgabenverteilung – Rituale zelebrieren – Routine durchbrechen – optimistisch sein.
Früher hieß es einmal, Blut sei dicker als Wasser, um die familiäre Bindung zu beschreiben. Heute könnte man sagen: wenn man es versteht, aus Wasser Wein zu machen, ist die Frage nach dem „Blut“ nicht mehr so entscheidend.
Erkenntnisse aus der Shell-Jugendstudien 2010
„In der Shell-Jugendstudie von 2010 sind 76 % der befragten Jugendlichen der Meinung, dass man zum Glücklichsein eine eigene Familie braucht. Was werden diese Jugendlichen mit „Familie“ verbinden?“
Die Jugendlichen haben sowohl die eigene Herkunftsfamilie als auch den Wunsch, eine eigene Familie zu gründen, im Blick. Sie sehen dabei auf die immer steigenden Anforderungen in Schule, Ausbildung und Beruf und suchen vor allem einen Raum des Rückhaltes und der emotionalen Unterstützung. Kein Wunder, dass das „Hotel Mama“ nach wie vor sehr wichtig ist und genutzt wird – natürlich auch, weil es kostengünstig und bequem ist. Interessant ist, dass der Wunsch, Kinder zu bekommen und zu erziehen, eine steigende Tendenz hat.
Und mit „Familie“ verbinden sie sicher das, was oben in der vorigen Frage beantwortet wurde.
Allerdings wird die soziale Kluft größer. Die (steigende!) Zahl der aus sozial schwachen Verhältnissen stammenden Jugendlichen schätzen ihre eigene Zukunft deutlich weniger positiv ein als ihre sonstigen Altersgenossen. Soziale Schwäche meint hier vor allem geringe Bildung und wenig Einkommen.
„Ehe und Familie“ im Grundgesetz
„Es ist ja nicht nur die Religion, es ist auch der Staat, der im Art. 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stellt. Das Lebenspartnerschaftsgesetz und die eingetragenen Lebenspartnerschaften berufen auf das gleiche Grundgesetz. Für viele Christen kommt das beinahe einem „Verrat“ am Schutz von Ehe und Familie gleich. Kann hier die Unterscheidung zwischen „Form“ der Ehe und Familie und dem „Inhalt“, was mit Ehe und Familie gemeint ist, vermitteln?“
Wenn das Grundgesetz Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, ist wichtig zu wissen, dass hier nicht Wunschbilder einzelner Gruppen oder Formen aus der Vergangenheit des Schutzes bedürfen, sondern dass es um Ehe und Familie in den Formen geht, wie sie sich jetzt, zur Zeit der neuen Gesetzgebungen, zeigen. Nicht die Form, sondern das, was in den formen „familiär“ gelebt wird, ist des Schutzes bedürftig.
Das war 1969 so, als das Nichtehelichen-Gesetz verabschiedet, das Adoptionsgesetz und das Scheidungsgesetz geändert wurde. Da standen Sicherheit und Verlässlichkeit für den Schwächeren der Partner im Blick. Die Kindergeldreform 1975 und die Einführung des Mutterschaftsurlaubes 1979 hatten dieselbe Zielrichtung. Die Einführung des Erziehungsgeldes 1986 war der Realität einer Gleichzeitigkeit von Beruf und Erziehung geschuldet. Kindererziehung findet ihren Niederschlag in der Rentenversicherung, was einer staatlichen Wertschätzung gleichkommt. Das Lebenspartnerschaftsgesetz mit seinem „kleinen Sorgerecht“ der Stiefkindadoption aus dem Jahr 2001 nimmt den Kernfamilien nichts weg, sondern stärkt die rechtliche Situation der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
Es geht also nicht um eine – sich im Laufe der Geschichte immer verändernde – Form der Ehe und der Familie, sondern um das, was in diesen Formen schützenswert und bewahrenswert ist.
Das kirchliche Ehesakrament
„Das Sakrament der Ehe ist in der katholischen Kirche ein öffentliches Versprechen der Eheleute vor Gott, eingebettet in einen Ritus mit Wort und Zeichen und mitgetragen von einer – zumindest kleinen – Öffentlichkeit. Braucht es heute solche Riten noch, um auch außerkirchlich eine Ehe zu beginnen? Kennen Sie andere Möglichkeiten, einen solchen Beginn zu markieren?“
In unserem Kulturkreis hängen solche Riten sicher an dem, was in den christlichen Kirchen aller Konfessionen bei der Eheschließung „erfragt“ wird: die Frage nach Liebe, Achtung, Ehre, Treue, die Frage nach den guten und den schlechten Tagen, und das „…bis der Tod euch scheidet“. Ein gutes religiöses Fundament kann die Antworten auf das, was erfragt und versprochen wird, tragen, es ist aber nicht zwingend notwendig. Menschen, die nicht religiös sind, in dieser Situation eine Form, einen Ritus anzubieten, ist ein gute Idee. Da sind Standesbeamte auch findig. Die Frage ist, wie der Entschluss des Zusammenlebens jenseits der Kirche und des Standesamtes in eine gute Form gebracht kann. Da sind die Partner allein gelassen – und, ehrlich gesagt, oft wollen sie es ja auch sein.
Ein postmodernes Verständnis von „Ehe“
„Die Postmoderne, so sagt der polnische Soziologe Zygmunt Bauman, sei gekennzeichnet dadurch, dass man einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuordnen kann. Mit anderen Worten: Treue, Kinder bekommen und erziehen, miteinander alt werden wird mit „Ehe“ verbunden, kann aber auch anders gelebt werden. Karl Valentin hat einmal gesagt: „Es ist so, es könnte aber auch anders sein!“. Hat die Ehe in der Postmoderne noch Zukunft?“
Baumann sagt: „Postmoderne ist die erregende Freiheit, jedes beliebige Ziel zu verfolgen und die verwirrende Unsicherheit darüber, welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden.“ Die Ehe hat Zukunft bei denen, die davon überzeugt sind, dass diese Lebensform als öffentliches Versprechen vor Gott und voreinander es wert ist, verfolgt, gesucht und gelebt zu werden. Das, was mit „Ehe“ umschrieben wird, kann auch in anderen Formen gelebt werden, die für andere vielleicht „wert-voller“ sind. Ich würde niemandem den Ernst dessen, was ich mit „Ehe“ verbinde, absprechen, nur, weil er nicht verheiratet ist, noch nicht einmal, wenn es sich um Menschen des gleichen Geschlechts handelt.
Wenn GCL Ehe und Familie unterstützen will…
Unsere Gemeinschaft hat sich weltweit auch der Aufgabe angenommen, Ehe und Familie zu unterstützen. Wie kann das nach innen, also auf die eigene Gemeinschaft hin, und nach außen, weltzugewandt, geschehen?
Ein wichtiges ignatianisches Wort ist: „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“. Nach innen: wahrnehmen, welche Hoffnungen und Freude, aber auch in welchen Sorgen und Ängsten Menschen in ihren verschiedenen Bindungen leben – und dem Raum geben. Wir haben viele Alleinstehende in unserer Gemeinschaft. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass gerade sie „familiäre Erfahrungen“ in der GCL machen können. – Und nach außen: wir sind neben aller Wertschätzung der traditionellen (Kern-) Familien aufgefordert, die vielen Familienkonstellationen, die Realitäten, in denen Familien leben, und die neuen Formen von Familien mit Christus in Kontakt zu bringen. Dazu lud uns der diesjährige Welttag ein. Das Gewohnte ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Offen sein für das Ganze der Wirklichkeit, wie es sich uns zeigt, schauen, was sich zeigt, und den Eingebungen des guten Geistes folgen – das wäre ein Weg.
Harald Klein, Köln