06. Sonntag im Jahreskreis: „Wenn Du willst…“ – hier irrt die Bibel!

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In Weisheit leben

Je nach den äußeren Umständen, die das Volk Israel durchlebt oder durchleidet, spricht es anders von Gott. Als im babylonischen Exil ein Perserkönig – und eben nicht ein jüdischer König – die Befreiung brachte, muss Israel umdenken: der Gott Israels scheint auch Herr über andere Völker zu sein, wie könnte sonst ein Perserkönig Rettung bringen? Und dann der Zweifel: Gelten denn die Gebote, die für Israel gelten, auch für andere Völker? Gelten die Zusagen, die Israel bekommen hat, auch anderen?

Als Hunderte von Jahren später die Griechen Israel einnahmen und die Juden in die große Zerstreuung kamen, bis hinunter nach Ägypten, als der Tempelkult und die Wallfahrt unmöglich wurden, setzte ein zweites großes Umdenken ein. Die sogenannte Weisheitsliteratur entstand. Jesus Sirach ist eines der Bücher, aber auch das Buch der Sprichwörter oder das Buch der Weisheit gehören hierzu. Diese Bücher versuchten die Frage zu beantworten, wie man in der Diaspora, in der Zerstreuung so leben kann, dass das Leben gottgefällig ist. Und auf diesem Hintergrund müssen Sie die kurze Lesung aus Jesus Sirach lesen und verstehen.

„Wenn Du willst, kannst Du die Gebote halten.“

Die Lesung ist etwas aus dem biblischen Zusammenhang gerissen. Ein Vers gehört meiner Meinung nach noch unbedingt dazu: „Gott hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen.“ Und dann geht es damit weiter, was wir schon gehört haben: „Gott gab den Menschen seine Gebote und Vorschriften. Wenn Du willst, kannst Du das Gebot halten; Gottes Willen zu tun ist Treue.“

Mit Verlaub: Das stimmt nicht. Hier in der Kapelle sitzen einige hundert Jahre Lebenserfahrung. Und ich hoffe sehr, dass Sie mir – wenn auch ein wenig verstimmt und traurig darüber – zustimmen können, dass es eben nicht nur an meinem, an Ihrem Willen liegt, Gottes Gebot zu halten. Es gibt den fast schon frechen Spruch „Wollen ist Können!“ – aber ich glaube, dass dieser Spruch zu groß vom Menschen denkt. Wollen ist noch lange nicht Können, das gilt bei den alltäglichen Arbeiten, das gilt in Beziehungen, das gilt beim Leben nach Gottes Geboten.

Die „drei Kränkungen der Menschheit“ nach Sigmund Freud

Es ist der Leistung Sigmund Freuds zu verdanken, dass dem sogenannten „freien Willen“ des Menschen seine Grenzen gesetzt wurden. Sigmund Freud schrieb 1917 über die drei „Kränkungen der Menschheit“, die den Menschen in seinem narzisstischen und selbstverliebten Denken über sich und seine Welt sehr verletzen. Da ist zunächst die kosmologische Kränkung, die auf die Entdeckung des Kopernikus zurückgeht, dass nämlich sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne drehe. Der Mensch und seine Welt ist keinesfalls Zentrum, Mitte, um die herum sich alles dreht. Als Zweites ist die biologische Kränkung zu nennen, die auf Charles Darwin und seinen Evolutionsgedanken zurückgeht. An die Stelle des Geschöpfs eines liebenden Gottes tritt der Gedanke, am Ende einer Entwicklung einer Tierreihe zu stehen. Und schließlich die psychologische Kränkung, die Freud selbst beschrieben hat; in seiner Theorie vom Unbewusstsein entzieht sich ein Teil des Seelenlebens der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. Freud brachte das ins Bild einer Frage, wer denn eigentlich der Herr im eigenen Hause sei – der freie Wille ist es jedenfalls nicht.

Kann ich, wenn ich nur will, die Gebote halten? – Positive Verstärker!

Die Antwort ist klar: Nein, kann ich nicht! Aber was ich kann, ist, mich mühen, nach Kräften so zu leben, wie es Gott gefällt und wie es ihm und letztlich auch mir entspricht. Wieder ein gutes Mittel aus der Psychologie ist das, was man „positiven Verstärker“ nennt. Wenn mein Wille allein zu schwach ist, braucht es einen Anreiz von außen oder von innen, so zu leben, wie es den Geboten Gottes entspricht. So einen Anreiz beschriebt Paulus: „Nein, wir verkünden, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und was kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet, die ihn lieben.“ Nicht vor Angst, die Gebote nicht zu erfüllen, nicht klein beigeben oder sich klein machen, ist christlich, sondern sich locken zu lassen von dem, was Gott für uns bereitet hat. Gottes Gebote halten muss lustvoll sein, kann lustvoll sein, will lustvoll sein! Und ich glaube, dass Jesu „Ich aber sage Euch“ im Evangelium auch nichts anderes ist als ein solcher positiver Verstärker. „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist…“ – das beschreibt die Gebote. Das „Ich aber sage Euch“ macht die Auslegung weiter, lebendiger, gibt ihnen einen Platz im Leben. Es geht Jesus nicht darum, die Jünger zu ängstigen, weil sie die Gebote nicht halten können. Es geht Jesus darum, bei den Jüngern – und bei uns – eine Aufmerksamkeit, heute würde man sagen: eine Achtsamkeit – für alles Zusammenleben zu erwecken, um dann auf dieses Zusammenleben zu schauen, und nicht auf die willentliche Erfüllung der Gebote.

Mit anderen Worten: Wer in dieser von Jesus vorgestellten Aufmerksamkeit und Achtsamkeit allem Leben und Lebendigen gegenüber unterwegs ist, der erfüllt die Gebote, ohne an sie zu denken, ohne sie willentlich zu erfüllen. Und er erfüllt sie, weil er sich locken und leiten lässt von dem, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, von dem, was Reich Gottes meint – und ich erfülle sie nicht, weil ich gehört habe, dass zu den Alten gesagt worden sei… In diesem Sinne kann ich es gut hören, was Jesus Sirach sagt: „Gott hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen. Gott gab dem Menschen seine Gebote und Vorschriften. Wenn Du willst, kannst Du das Gebot halten. Gottes Willen zu tun ist Treue.“

Amen.

Köln, 15.02.2020
Harald Klein