Nach dem „Seht!“… – zweimal zwei neue adventliche Imperative
Mein Advent hat mit dem „Einatmen. Ausatmen. Weitermachen.“ Begonnen. Und die Zeit dazwischen, die Ruhezeit zwischen Ein- und Ausatmen galt in dieser ersten Woche dem „Seht!“ des Jeremias. Wahrnehmen, was auf den ersten Blick da ist, und vor allem Wahrnehmen und für wahr annehmen, wer und was auchda ist. Und dann, wirklich erst dann weitermachen.
Das erste Wort der ersten Lesung des ersten Advents war ein Imperativ: „Seht!“ Und auch an diesem Sonntag steht ein Imperativ zu Beginn: „Leg ab…“, und ihm folgt im angehängten Nebensatz ein zweiter: „… und bekleide Dich!“. Vier Verse weiter schreibt Baruch, der Begleiter des Jeremias, noch einmal zwei Imperative auf: „Steht auf…“, gefolgt von „… und steig auf die Höhe!“ Durch meine Brille des „Einatmen. Ausatmen. Weitermachen“ gelesen, sind das zweimal zwei wirklich adventliche Imperative, die etwas, die entscheidendes mit der Ankunft Christi im Menschen zu tun haben.
„Leg ab…“ – und „Bekleide Dich…!“
Im Rhythmus des „Einatmens. Ausatmens. Weitermachens“ gilt mein Blick meinem Tun, und die Ruhezeiten dazwischen spüren zu den Haltungen, den Erwartungen hin, die hinter diesem Tun liegen, oder anders: in denen mein Tun gründet. Ich komme dem auf die Spur, was letztlich dem Toben und Donnern des Meeres gleicht, von dem Lukas in seinem Evangelium am letzten Sonntag gesprochen hat. Und dann kann es wirklich zu einem Erschrecken kommen. Wie viele überzogene Erwartungen sind da, die ich an mich selbst stelle, und die letztlich meinem eigenen Leben feindlich gesinnt sind. Wie viel überfordernde Erwartungen sind da, mit denen ich mich im Leben auf andere hin schwertue oder es ihnen schwer mache. Wie wohltuend ist da das Wort vom „ablegen“, das mir Baruch an diesem Sonntag anbietet. Und nicht nur das, er fügt das „Bekleide Dich“ an. Und das neue Kleid heißt bei ihm „Schmuck der Herrlichkeit, die Gott Dir für immer verleiht.“ Damit Christus bei mir neu ankommen kann, damit mein Weitermachen ein neues Weitermachen werden kann, werden mir neue Gewänder angeboten, die wahrscheinlich gar nicht so neu sind, sondern nur „überzogen“ waren. Falsche Selbstbilder hingen darüber, oder sie waren überzogen mit überzogenen Erwartungen an die um mich herum, an das, was ich vom Leben erhoffte. Vielleicht kann auch ein Hinhören auf andere eine Hilfe sein, durch die mir Gott selbst einen wirklich neuen, von mir ebenso unentdeckten wie unerwarteten „Schmuck der Herrlichkeit“ anbietet. Wer weiß. Wieder gilt: Einatmen. Ausatmen. Weitermachen.
„Steh auf…“ – und: „Steig auf die Höhe!“
Dann der zweite adventliche Imperativ des Baruch: „Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe.“ Nicht niedergeschlagen sitzen oder liegen zu bleiben, sondern hoffnungsfroh aufzustehen, und aus einer hohen Perspektive mir einen Überblick gönnen über das, was da ist, über die, die da sind. „Schau nach Osten, und sieh Deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Herrn sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.“ Im Einatmen und Ausatmen, in den Ruhezeiten dazwischen einfach die Namen derer kommen lassen, die zu meinem Leben gehören, die mein Leben und mich ganz persönlich reich machen, mit denen ich mich freue, dass Gott an uns gedacht hat, uns zusammengeführt hat. In den Ruhezeiten zwischen Ein- und Ausatmen in die Haltung der Dankbarkeit kommen, und dann: Weitermachen. „Immer, wenn ich für Euch alle bete, tue ich es mit Freude“, sagt Paulus im Philipperbrief. Weitermachen – in Dankbarkeit und Freude.
Gott kommt in die Geschichte
In dem Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig es Lukas und seinem Evangelium ist, aufs Jahr genau zu sagen, wann die Geburt Jesu geschah: „Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius…“. Es geht dem Advent und dem Christentum nicht um abstrakte Handlungsmuster oder um eine christliche Ethik, nicht um Übungen und Atem-Meditationen allein. Das mag alles gut und richtig sein. Aber Lukas will sagen: Gott wird Mensch, in der Geschichte, und er will in meiner Geschichte durch mich, in mir Mensch werden. Hier schwenkt im „Einatmen. Ausatmen. Weitermachen“ ein neues Moment ein. Es kann von der Dankbarkeit zur Bitte, zur Erwartung hin gehen. DerAdvent wird zu meinemAdvent. Das Betrachten der Menschwerdung Gottes in der Geschichte wird zur Betrachtung der Menschwerdung meiner selbst in meiner Geschichte, durch das, was ich ablegen kann und mit dem ich mich neu bekleiden kann, durch ein Aufstehen und einen Überblick.
Vier Worte des Baruch, die zwischen Ein- und Ausatmen einen Platz haben wollen: Leg ab! Bekleide Dich! Steh auf! Steig hinauf!
Amen.
Köln, 09.12.2018
Harald Klein