30. Sonntag im Jahreskreis – „Wetten, dass…!“

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Wenn es Gott gäbe…

Ein klein wenig Philosophie zu Beginn, es geht um die „Wette“ des französischen Mathematikers, Physikers und Philosophen Blaise Pascal (1623-1682). Den Agnostikern und Atheisten seiner Zeit begegnete er mit dem Bild einer „Wette“. In der Frage, ob es Gott gäbe oder nicht – ein „Drittes“ dazwischen schloss er aus – solle man immer auf die Existenz Gottes setzen und auf seine Existenz wetten. Seine Begründung hat vier Optionen:

  • man glaubt an Gott, und er existiert – in diesem Fall wird man belohnt („Himmel“ – man hat gewonnen);
  • man glaubt an Gott, und er existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man nichts (verliert aber auch nichts);
  • man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man ebenfalls nichts (verliert aber auch nichts);
  • man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert – in diesem Fall wird man bestraft („Hölle“ – man hat verloren).

Von den Optionen, die sich anbieten, scheint es also nach Pascal geraten zu sein, bedingungslos an Gott zu glauben.[1]

» Was Jesus aus dieser Fangfrage auf Leben und Tod macht, ist wie eine Erklärung dessen, was uns in Wahrheit leben lässt oder was uns selber töten müsste. «
Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 3: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 114.

An Gott glauben – aber wie?

Also angenommen, Gott existiere, wie dann an ihn glauben, wie dann vor und mit ihm leben? In die Richtung geht die Fangfrage der Gesetzeslehrer im Evangelium, die sie Jesus stellen: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Als ob es nur eine Antwort gäbe! Der Dreiklang der Antwort, die Jesus gibt, gehört zu den bekanntesten Sätzen des Evangeliums: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37f).

Eugen Drewermann bemerkt dazu: „Was Jesus aus dieser Fangfrage auf Leben und Tod macht, ist wie eine Erklärung dessen, was uns in Wahrheit leben lässt oder was uns selber töten müsste.“[2]

Es geht um eine Frage, die uns lebendig hält, uns am Leben lässt  – und die, als „Fangfrage“ verstanden, uns in einen innerlichen Tod zu versetzen mag. Über die Persönlichkeitsbilder des Enneagramms versuche ich eine Antwort.[3] Sie müssen das Enneagramm mit seinen drei Triaden, seinen neun Persönlichkeitstypen und deren Beziehungen zu- und aufeinander nicht kennen, wichtig sind die Unterschiedlichkeit der Typen, die die Frage des Gesetzeslehres jeweils aus ihrem Typ heraus hören und sie ebenso unterschiedlich zu beantworten versuchen.

» Bauchmenschen reagieren instinktiv. [...] In einer neuen Situation sagen sie zunächst: 'Hier bin ich. Geh mit mir um.' Oder sie fragen: 'Wer bin ich hier?' Das Leben ist für sie eine Art Kampfplatz. Oft unbewusst geht es ihnen um Macht und Gerechtigkeit. Sie müssen wissen, wer das Sagen hat, sind meist direkt, offen oder versteckt aggressiv und beanspruchen ihr eigenes 'Revier'. Bauchmenschen leben in der Gegenwart, erinnern sich an die Vergangenheit und erhoffen sich manches von der Zukunft. Sie tun sich aber schwer, einem klaren Plan zu folgen und ihm treu zu bleiben. Wenn es ihnen schlecht geht, geben sie meist sich selbst die Schuld. [...] Nach außen wirken sie meist selbstsicher und stark, während sie innerlich von moralischen Selbstzweifeln gequält werden können. «
Rohr, Richard/ Ebert, Andreas (1991): Das Enneagramm. Die neun Gesichter der Seele, München, 41.

Das Gebot der GOTTES-Liebe

Können Sie sich eine „gebotene Liebe“ vorstellen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“ – das mag in Tatengeschehen, Sie können es abarbeiten, als Haltung scheint es mir jedoch nicht möglich. Mir fallen die Persönlichkeiten der „Bauchtriade“ im Enneagramm ein. Ihnen mag die gebotene „Gottesliebe“ am gefälligsten sein.

Der Typ der „ACHT“ und seine übertriebene Aggressivität wird vor allem im Kampf nach außen alles ausmerzen wollen, was dem Gesetz Gottes nicht entspricht oder nach Weiterentwicklung ruft. Der Typ „NEUN“ mit seiner verleugnetenAggressivität wird seine Gottesliebe vor allem in Situationen des Rückzuges – man könnte sie dann auch „Gottesdienst“ oder „reine Liturgie“ nennen – suchen. Der Typ „EINS“ weist eine introvertierte Aggressivität auf und zeichnet sich in der Gottesliebe darin aus, dass er den perfekten Gottesdienst gestaltet und alles umgeht bzw. nicht zulässt, was auch nur den Anschein von Dilettantismus hat.

Dabei könnte die „ACHT“ in der Liebe zu Gott auf einem Pfad der Stärke Gott entgegengehen und dessen Stärke verkünden. Die „NEUN“ könnte das auf einem Pfad der Gewaltlosigkeit wagen und sich für sie einsetzen. Die „EINS“ könnte einen Pfad des Verlangens wagen, der auf die Erfahrung Gottes außerhalb ihrer selbst hin ausgerichtet ist und in Gemeinschaft z.B. in Meditationen Gott suchen.

» Die Energie der Herzmenschen[...] bewegt sich auf andere zu. Die Welt des subjektiven Gefühls ist ihre Domäne; ihr Thema sind zwischenmenschliche Beziehungen. [...] So wie es bei den Bauchmenschen um die Macht geht, geht es bei ihnen um das Fürsein. Sie tun sich schwer, bei sich selbst zu bleiben.In einer neuen Situation fragen sie zunächst: 'Werdet ihr mich mögen?' oder: 'Mit wem bin ich zusammen?' Sie sehen das Leben als Aufgabe, die bewältigt werden muss [...] Sie werden von dem beherrscht, was andere über sie denken und meinen oft zu wissen, was für andere gut ist. Während sie ihre Besorgtheit übertrieben ausleben, unterdrücken sie ihre Aggressionen und verstecken sich hinter der Fassade von Güte und Aktivität. Nach außen wirken sie oft selbstsicher, fröhlich und harmonisch, innerlich erleben sie sich aber oft als leer, unfähig, traurig und beschämt. «
Rohr, Richard/ Ebert, Andreas (1991): Das Enneagramm. Die neun Gesichter der Seele, München, 41f.

Das Gebot der NÄCHSTEN-Liebe

Das Gebot der „Nächstenliebe“ findet seinen Widerhall am ehesten bei den Persönlichkeiten der „Herztriade“. Aber auch deren „Seelenkräfte“ können zum inneren Tode führen.

Der Typ „ZWEI“ versucht die Nächstenliebe über eine übertriebene emotionale Zuwendung; ein wenig klingt mit: „Und willst du nicht mein Nächster sein, dann …“ – Sie wissen schon. Nächstenliebe hat nichts zu tun mit einer Nähe, die erdrückt, sondern die aufrichtet, die begleitet. Der Typ „DREI“ verleugnet seine Gefühle. Er ist eine Führungspersönlichkeit – den Nächsten lieben heißt zuerst, spüren, was der andere sucht, und ihm dann begegnen in einer Haltung des „Ich kann dich dahin führen, wohin du willst“ bzw. „Ich kann dir geben, was du sucht“ (meint aber: „Ich werde dich dahin führen, wohin ich will – und dir geben, was ich will). Der Typ „VIER‘“ handelt mit einer Introjektion der Gefühle. Er findet beim Nächten immer etwas Besonderes, beinahe Anbetungswürdiges, und umgekehrt: Nur der wird ihm zum  Nächster, der etwas Besonderes, Anbetungswürdiges hat – und der ihm selbst auch so begegnet. Das alles geschieht dann mit viel Ausdruck und ganz besonderen Weisen und Wegen des Miteinanders auf diesen Nächsten hin.

Dabei könnte das „wichtigste Gebot“ für den Typ „ZWEI“ das wirkliche Einüben des Pfades von Liebe und Beziehunggegenüber dem Nächsten sein. Der Typ „DREI“ könnte seine Herzenskraft in einen Pfad der Tat legen, der den Nächsten an dessen Ziel begleitet und mit ihm geht, sofern er das will. Den Nächsten zu lieben wäre für den Typ „VIER“ auf dem Pfad der Schönheit möglich, im Anbieten und Auskosten der besonderen Momente und des gut gestalteten Alltags, über das Notwendige, das die Not Wendende hinaus, dem Nächsten dessen Spezifika und Besonderheit zu zeigen.

»Ihr (gemeint sind die Kopfmenschen, H.K.) Kontrollturm ist das Hirn. Die Kopfenergie ist [...] eine Energie, die sich zurückzieht von anderen. Die Angehörigen dieser Gruppe machen in jeder Situation erst einmal einen Schritt nach hinten, um nachzudenken. [...] In einer neuen Situation wollen sie sich erst einmal zurechtfinden: 'Wo bin ich?' bzw. 'Wie passt das alles zusammen?' Sie sehen das Leben in erster Linie als Rätsel und Geheimnis. Sie haben einen Sinn für Ordnung und für Pflicht. Ihre Haltung ist in der Regel eher unbetroffen und sachlich. [...] Sie handeln erst, nachdem sie nachgedacht haben und gehen dabei methodisch vor. In Notsituationen werfen sie sich vor, dumm und unwürdig zu sein. Während ihre Furcht übertrieben ist, verstecken sie besonders ihre zärtlichen Gefühle oft hinter einer Fassade von Sachlichkeit und Unbetroffenheit. Nach außen wirken sie oft klar, überzeugt und klug, innerlich erleben sie sich aber häufig als isoliert, verwirrt und sinnlos." «
Rohr, Richard/ Ebert, Andreas (1991): Das Enneagramm. Die neun Gesichter der Seele, München, 42f.

Das Gebot der SELBST-Liebe

Bleibt das Gebot der Selbstliebe, das vielleicht am stiefmütterlichsten in diesem Dreiklang in der christlichen Religion, Frömmigkeit oder Spiritualität behandelt wurden. Und es bleibt die „Kopftriade“, denen dieses Gebot besonders zugetragen wird, um zum Leben zu kommen und sich samt die anderen aus dem Tode zu reißen.

Da ist der übertriebene Rückzug des Typs „FÜNF“, Rückzug sowohl ins Denken und in den Kopf als auch Rückzug in die eigenen vier Wände. Ins Handeln kommen geht erst dann, wenn alle ‚Eventualitäten bedacht sind und die Strategie steht. Den nächsten oder gar einen neuen Schritt wagen ist Schwerstarbeit, und sich selbst lieben scheint kaum zu gehen, weil so vieles Unbedachte, Unerledigte noch da ist, und dazu die ganzen Lasten von früher. Der Typ „SECHS“ fällt auf durch seine verleugnete Denkfunktion. Er „lässt denken“. Wenn alle tun, was das Gesetz fordert – das religiöse wie das staatliche oder kirchliche Gesetz –, dann wäre die Welt und die Kirche doch in Ordnung. Selbstliebe heißt: Ich tue „meine Pflicht“ – mir selbst und anderen gegenüber. Dabei bin ich aber vorsichtig, ich will niemandem etwas schuldig bleiben oder selbst etwas verschulden. Bleibt der Typ „SIEBEN“, der planende Denker. Das Maximum an Freude, manchmal auch nur an „Spaß“ ist ihm wichtig. Selbstliebe heißt, alles dafür zu tun, dass Langeweile, Angst und Not aus seinem Leben draußen vor bleiben.

Dabei könnte erlösend das „wichtigste Gebot“ für den Typ „FÜNF“ der Pfad des Wissens sein, den er eben nicht allein geht, sondern auf dem er sich anderen zuwendet. Der Typ „SECHS“ könnte auf einem Pfad der Treue die Pflicht dahingehend wandeln, dass er auch dann mitgeht, wenn es jenseits des verpflichteten Wegs geht. Hier spielt, würde Jesus sagen, das Leben! Und der Typ „SIEBEN“ kann seine „Lust“ in „Freude“ transformieren und auf dem Pfad der Freude auch die und das mitnehmen, das ihm schwer ist, und die, die zu tragen er sich kaum traut.

» Reflexion ist eine Aktivität, bei der vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handlungen im Denken verbunden werden. Nicht der Inhalt der Gedanken, sondern der Denkprozess ist dabei entscheidend. [...] In diesem Prozess werden Handlungen vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen oder gesetzter Ziele beurteilt. Aus dieser Beurteilung ergeben sich Optionen und Entscheidungen über das weitere Vorgehen. «
Spenst, Dominik (2022): Das 6-Minuten Tagebuch. Ein Buch, das dein Leben verändert, 5. Aufl., Hamburg, 48.

Noch einmal: Wenn es Gott gäbe…

Da sind wir wieder bei der „Wette“ von Blaise Pascal. In der Frage, ob es Gott gebe oder nicht, sei es gewinnbringender, auf ihn zu wetten statt gegen ihn. Das Hauptgebot mit seinem Dreiklang, das Jesus als von diesem Gott erfahren an den Gesetzeslehrer weitergibt, führt zum Tod, wenn es als „gebotenes Gesetz“ verstanden wird. Alle neun Typen des Enneagramms fallen unter ihren Fallen, die sich als Weg des gebotenen Gesetzes scheinbar anbieten.

Wo stehe ich – vielleicht in der Figur des Enneagramms? An welchem Punkt des Dreiklangs will ich beginnen? Und wie wird sich mein Weg gestalten, auf welchem Pfad trauen ich mich, ins Tun zu kommen? Nur, wenn dieses dreifache Gebot als „Angebot“ verstanden wird, und nur dann, wenn die Geistesgaben, die jeder der Enneagramm-Figuren sehr spezifisch innewohnen, auf jeweils neue Pfade „gottwärts“ geführt werden, erspürt man selbst und erspüren andere in der Begegnung mit uns, was uns wahrhaft leben lässt. Die Akzente sind dann – je nach Typ – verschieden. Der eine mag „Gott“ lieben in den Riten und Formen des Gebetes, die „geboten“ sind; die andere mag „den Nächsten“ mit allem, was zu ihm, zu ihr gehören, im Blick haben, und wieder andere betonen die Sorge um die „Selbstliebe“, um aus sich heraus heilend leben zu können. Gerade dieses dreifache Angebot wird so im Zusammenspiel zum wichtigsten Gebot des Christentums. Und von einem bin ich überzeugt: Wenn ich in diesem Dreiklang meinen Ton gefunden habe, sei es eher bei der Gottes-, bei der Nächsten- oder bei der Selbstliebe, stellen sich die beiden anderen Töne ganz von selbst ein. Wenn nicht, ist mein Ton nicht echt, ist er – in der Sprache des Enneagramms – erlösungsbedürftig!

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihren Platz finden, den „Typ“, von dem aus Sie Ihre Beziehung zu Gott, zu den Menschen und zu sich selbst leben können. Und dass Sie ins Tun kommen!

Amen.

Köln, 27.10.2023
Harald Klein

[1] Sehr schön erläutert und mit einer Zusammenstellung der Einwände gegen diese Wette versehen ist der Artikel zur Pascal’schen Wette bei Wikipedia, vgl. [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Pascalsche_Wette [27.10.2023].

[2] Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, Bd. 3, 114.

[3] Ich beziehen mich bei den Anmerkungen zum Enneagramm auf Ebert, Andreas (2008): Die Spiritualität des Enneagramms, München.