4. Sonntag der Osterzeit – Der gute Hirt, oder: Zum Teufel mit dem Schafsein?!

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Wie so oft – der Kontext des Verstehens und des Lebens…

Wie der „Weiße Sonntag“ mit der Erstkommunion am Sonntag nach Ostern einmal seine Heimat hatte – heute wird er in den Großpfarreien oft an 4-5 Sonntagen hintereinander in einer je anderen (nämlich der „eigenen“) Kirche bzw. Gemeinde gefeiert – so ist der vierte Sonntag in der Osterzeit der „Sonntag vom guten Hirten“. Das Stichwort des „auf die Stimme des guten Hirten hören“ wird verknüpft mit dem Begriff und dem Geschehen der „Berufung“, und oft sind Priesterkandidaten und Ordensleute eingeladen, über ihre „Berufung“ zu predigen.

Gleich zweimal kann in einer spät- oder postmodernen Gesellschaft nach den Kontexten, den Verstehens- und des Lebenshorizontes, gefragt werden.

Ein Erstes: Ähnlich wie beim Bild vom Menschenfischer, das ja das Wirken des Petrus umschreibt, zum dem er von Jesus „berufen“ ist, geht es mir beim Bild vom Schaf – für Männer eher das Bild vom Bock. Wenn ich den Kontext nicht mitdenke, und zwar gutwillig mitdenke, bewirken die Bilder genau das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Treffend bemerkt Eugen Drewermann zum heutigen Evangelium: „Im Mittelpunkt des 1. Kapitels im Johannes-Evangelium spricht Jesus zu den ‚Juden‘ (den ‚Gottesbesitzern‘) über die Form von Religion, die dem Verhältnis zwischen Hirt und Herde gleicht; eine solche Beziehung ist gewiss missbrauchbar im Gefälle von Macht und Unterordnung, aber gemeint ist von dem johanneischen Jesus eine Gemeinschaft wechselseitigen Vertrauens, ein Gerufenwerden beim eigenen Namen, ein wechselseitiges Hören und Zueinandergehören, eine Verbundenheit mit Gott, wie Jesus selbst sie als ein tiefes Gefühl der Geborgenheit wie zwischen einem Vater und einem Sohn vermittelt.“[1]

Ein Zweites: Ob es in Zeiten des „Synodalen Weges“ gelingt aufzuzeigen, auszudrücken und hinzuführen dahin, dass „Berufung“ ein Grundkriterium jedes Menschen (nicht nur eines geweihten oder Gelübde abgelegt habenden Christen) ist, wage ich ehrlich gesagt zu bezweifeln. Zu sehr eingeprägt hat sich bei uns die Rede von „denen“ und „uns“, wie auch immer Sie das füllen wollen – Ein von der Kanzel  gepredigtes „Wir“ ist noch kein Garant für ein auf den Straßen und in den Wohnungen gelebtes „Wir“.

» Wie der Hirt ein jedes der Tiere kennt und beim Namen ruft (Joh 10,3), so verhält es sich mit Gott in Bezug auf uns. Ein jeder von uns ist gemeint, ein jeder, mit anderen Worten, trägt in sich ein bestimmtes Portrait, ein bestimmtes Bild seiner Schönheit und Bedeutung; Gott ruft ihn gerade in dem, was als Kostbarstes in ihm angelegt ist, auf dass er es entfalte und hervorbringe. Nur die Liebe vermag so etwas in dem Raum unserer Erfahrung, aber immer weist alle Liebe unter uns Menschen hin auf jene Liebe, die uns im Vorlauf zu allem eint und überstrahlt. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 469.

Selbst beim Namen gerufen werden – die anderen beim Namen rufen

Um dieses gelebte Wir geht es mir, gerade in dieser Zeit nach Ostern, in der der Begriff der „Auferstehung“ immer noch zugleich fraglich wie zugesagt über den Köpfen schwebt, besser: in den Herzen schwingt und kaum über die Alltags-Lippen kommt.

Hirt und Herde sind die Worte, die Johannes Jesus in den Mund legt, die aus einer bäuerlichen Gesellschaft in Israel und Judäa jetzt ins urbane und politisch-gesellschaftlich-soziale so anders verfasste Griechenland kommen. Sie erfahren einen Kulturschock. Wie soll man mit den Worten Jesu verständlich ausdrücken, was er meint, oder wofür er steht? Es braucht eine Übersetzung ins Heute, in unsere Lebenswelt, in unseren Kulturkreis. Noch einmal Eugen Drewermann: „Unsere Frage muss […] sein, was denn die Begriffe, die Worte, die Gedanken, die Jesus im Johannes-Evangelium in den Mund gelegt werden, ursprünglich einmal bedeutet haben, was sie in dieser neuen, so ganz unjüdischen, hellenistischen Welt damals besagten und was sie uns selber heute in einem noch einmal ganz anderen Kulturkreis zu sagen vermögen.“[2]

Ein Übersetzungsversuch könnte das „beim Namen rufen“ sein. Das ist kein Appell der Rekruten am Hof einer Kaserne oder an Gefangene im Gefängnishof, wo nicht Menschen, sondern Namen aufgerufen und der Aufrufe mit „Hier“ beantwortet werden.

Jemanden „beim Namen nennen“ heißt (zumindest im biblischen Kontext), ihn in seinem oder sie in ihrem Wesenanzusprechen; ihn oder sie zwar heute zu rufen, aber das Gestern (die Geschichte) und das Morgen (die Entwicklung) dieses Menschen mitzumeinen. Das Trauversprechen in der kirchlichen Eheschließung beginnt damit, dass man sich beim Namen nennt! Genau das – das Gestern – Heute – Morgen ist gemeint.

Jemanden bei Namen nennen ist Ausdruck der Verbundenheit miteinander. Einen Freund, eine Freundin beim Namen nennen zielt auf das Kostbarste, was ich in ihm, in ihr sehe, und soll helfen, dass er oder sie es zur Entfaltung bringe.

Zum einen möchte ich glauben, dass Gott selbst auf diese Weise mich beim Namen nenn, und Sie genauso. Er schaut aufs Kostbarste in uns, dass es durch seinen Ruf mehr zur Entfaltung komme. So soll er mir guter Hirte sein. Das hat doch was von „Auferstehung“, oder?

Zum anderen weiß ich aber auch um die eigene Fähigkeit, andere beim Namen rufen oder nennen zu können, so, dass in unserer Verbundenheit miteinander das Kostbarste in ihm, in ihr sich entfalten kann. Das ist meine (und Ihre) Berufung zum guten Hirten. Das sprengt ein wenig den herkömmlichen Kontext von „Berufung“, oder? Und auch das hat mit „Auferstehung“, wie ich sie verstehe, zu tun.

» ... ohne Hass und ohne Feindschaft
nach oben, nach unten, in alle Richtungen. «
Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben, Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 4. Aufl., 11.

„Nicht so viel denken, mehr lieben“

Was die Worte Jesu jenseits des jüdischen und auch des hellenistischen Kulturkreises gegenwärtig heute für Sie und für mich bedeuten können, muss nicht unbedingt in Worten ausgedrückt werden, und dafür ist das „beim Namen nennen“ zwar hilfreich, aber ehrlich gesagt noch nicht einmal notwendig. An die Stelle der Worte können auch die Taten treten.

Ein wenig weiter im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums streiten die Pharisäer mit Jesus über die Rede vom Hirten und den Schafen. Jesu schlagfertigstes Argument ist: „Wenn ich nicht die Werke meines Vatersvollbringe, dann glaubt mir nicht. Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt. Dann werdet ihr erkennen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin“ (Joh 10,37f).

Das wäre wieder so eine gute Weiterentwicklung, nicht nur vom guten Hirten zu reden, sondern einander guter Hirte und gute Hirtin zu sein und zu handeln. Das Buch, dem die Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte entnommen ist, trägt den Titel „Nicht so viel denken, mehr lieben“. Die Autorin verweist auf Teresa von Avila, von der dieser Titel stammt, leider ohne Quellenangabe. Zum Hirten, zur Hirtin berufen sein heißt, zu lieben und liebend zu handeln – und in den Worten des Buddha meint dies in seiner Lehrrede „ohne Hass und ohne Feindschaft nach oben, nach unten, in alle Richtungen“[3] liebend zu handeln – sich selbst übrigens eingeschlossen. Wenn es dieses Verb gäbe, könnte man wohl sagen, sich selbst zu „hirten“, sei die schwierigste und widerspenstigste Aufgabe. Und doch geht es darum, „die Liebesfähigkeit in unseren Herzen so zu entwickeln, dass wir vollkommen rein und geläutert sind und unsere Liebe bedingungslos verschenken können.“[4] Da mag es Momente geben – eher im Empfangen als in der eigenen Weitergabe -, wo selbst der Satz Jesu für das eigene Leben und Erleben Fleisch wird: Da erlebe ich Gott im anderen und mich selbst im Vater aufgehoben. Und wieder: ein Erleben und eine Erfahrung von „Auferstehung“.

» Der Buddha sprach vom 'Zusammensein mit weisen und reifen Menschen'. Als Ananda einmal zu ihm sagte: 'Herr, ein guter Freund ist das halbe spirituelle Leben', antwortete dieser. 'Sage das nicht, Ananda. Ein guter Freund ist das ganze spirituelle Leben.' «
Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben, Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 4. Aufl., 81.

Bitte und Zusage

Das alles im Hinterkopf, wäre es doch einen Versuch wert, einmal zu bitten: „Sei du mir guter Hirt / gute Hirtin.“ Oder es jemand anderen zuzusagen und aus dem „Ich bin der gute Hirt“ ein „Ich bin dir guter Hirt / gute Hirtin“ zu machen, ohne Hass und ohne Feindschaft, nach oben, nach unten, in alle Richtungen. Da geben sich Buddha und Jesus die Hand.

Amen.

Köln 04.05.2022
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 458.

[2] ebd.

[3] Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben. Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 11f

[4] a.a.O., 94.