„Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen, als ich sie vorgefunden habe“ – Im Gespräch mit Roger Willemsen an dessen Grab

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„Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen, als ich sie vorgefunden habe“  – Im Gespräch mit Roger Willemsen an dessen Grab

Um was es geht

Für die Gebetszeiten schlägt Ignatius in den „Geistlichen Übungen“ immer wieder vor, am Ende mit Gott Vater, mit seinem Sohn Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist oder mit der der Mutter Gottes ein Gespräch zu führen, ihnen anzubieten, was mir am Herzen ist und lauschend zu warten, ob ich eine „Antwort“ verspüre. Ich kenne diese Praxis des Gebetes, ich kenne sie auch im „Gespräch“ mit Verstorbenen, deren Werk und Leben mit am Herzen liegen und Beispiel ist. Ich habe solche Gespräche im vergangenen Jahr am Grab von Rose Ausländer in Düsseldorf und am Grab von Hermann Hesse in Gentilino bei Montagnola im Tessin geführt, mehr Hörender als Redender in Gedanken seiend. In der vorigen Woche führte mich eine Weiterbildung nach Hamburg, dort besuchte ich am Ohlsdorfer Friedhof das Grab von Wolfgang Borchert und – mein Hauptziel – das Grab von Roger Willemsen, an dem ich mich ca. 45 min aufgehalten habe, und an dem ich mit ihm „ins Gespräch“ gekommen bin. Den Eintrag ins Tagebuch gebe ich hier wieder.

Hallo, Roger,

und schon geht es los mit den Unsicherheiten! Die erste Unsicherheit: sagt man „Hallo“, jemanden ansprechend, der seit mehr als sieben Jahren tot ist und dessen staubige Reste hier unter der Erde sich längst aufgelöst haben? Die zweite Unsicherheit: darf ich einfach „Du“ sagen zu einem Menschen, der nicht nur der Ältere ist (wenn auch nur sechs Jahre), sondern dem ich im „richtigen Leben“ nie begegnet bin. Mehr noch: von dem ich zu seinen Lebzeiten weder etwas gesehen noch gehört oder gelesen hatte. Mit diesen zwei Unsicherheiten stehe ich an Deinem Grab, sitze dann auf der Bank links neben dem Grabstein aus Gneis, die Dir vom Afghanischen Frauenverein e.V. für die, die Dich besuchen, ans Grab gestellt wurde. In afghanischer Sprache steht an den Kopfenden der Bank ein Zitat von Dir, dass ich ähnlich auch von Hermann Hesse kenne: „Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen, als ich sie angetroffen habe.“[1] Bei Hesse heißt es: „Wenn wir einen Menschen glücklicher oder heiterer machen können, dann sollten wir es auf jeden Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.“ Ich lasse die Unsicherheiten hinter mir. Ich fange nochmal an:

 

Hallo, Roger,

ich bin Harald aus Köln, bin zu einer Fortbildung hier und einen Tag früher angereist, um bei Dir vorbeizuschauen. Mit dem Hinweis „das Grab liegt westlich von Kapelle 7“ und einem kleinen Sternchen auf einem groben Friedhofsplan warst Du nicht so einfach zu finden, und zweimal bin ich an Dir vorbeigelaufen. Jetzt habe ich Deinen Ort gefunden, und gerne würde ich erst einmal einfach ruhig hier sitzen und es genießen, hier zu sein. Lass uns ein paar Minuten gemeinsam schweigen.

Klar, Du kennst mich nicht, und ich fange erst an, Dich kennen zu lernen. Und das erst seit Kurzem, aber mit viel Freude und Neugier. Ein Freund (von dem ich Dich sicher grüßen darf) hat mir den „Knacks“[2] ans Herz gelegt. Der „Knacks“ – Dein Wort für das, was über das ganze Leben hinweg oft still und heimlich das Leben in seiner Ausdehnung, seiner Fläche, gar nicht so sehr in seiner Tiefe, verändert und prägt, lenkt – und letztlich sogar Leben verhindert -, fand ich großartig. Ich wollte wissen, wer Du bist, war überrascht, dass Du schon verstorben seist und noch mehr überrascht darüber, wie bekannt Du bist, gerade bei denen unseres Alters. Bei mir warst Du bislang irgendwie draußen vor, sorry.

Und dann begann dieses Kennenlernen. Da begegnet mir einer, der über einen unglaublichen Wortwitz verfügt und zutiefst Freude an der Sprache hat. Einer, der schreibt – ins Oktavheft mit dem Kugelschreiber (oder war es doch ein Füllfederhalter), die immer im Jackett oder zumindest greifbar sind. Einer, der eine große Menschenliebe hat und davon erzählt, oft verbunden mit seinen Reisen durch Deutschland, durch Afghanistan, durch die USA und an Orte, die Du als die „Enden der Erde“[3] beschreibst. Einer, der Nähe kennt und schätzt und gleichzeitig, so ahne ich es, oft davor zurückschreckt, weil Nähe immer auch Verpflichtung heißt. Einer, der die Liebe schätzt, darin ihre erotische Dimension, und gleichzeitig aufdeckend von dunklen Nächten in Bangkok[4] und vom Verrat an dem, was Liebe meint, schreibt. Einer, der auf die Schönheit und den unbeschreiblich hohen Wert der Menschenrechte hinweist, durch Deine Gespräche mit den Gefangenen von Guantanamo genauso wie durch Deine Gespräche Kindern aus Afghanistan. Einer, der von sich sagt, er käme aus der Sprachlosigkeit.[5]

Deine Leidenschaft gilt den Menschen, in den Interviews, die Du geführt oft dem einen Menschen, der Dir gegenübersitzt. Und dessen bzw. deren Menschsein zählt, nichts sonst. Darin begegnet Ihr Euch: ich bin Mensch – Du bist Mensch, und alle Rolle sei dahingestellt. In zwei Jahren hast Du über 1000 Menschen kürzer oder länger interviewt! Meine Herren, hast Du Deine Interviewpartner und Interviewpartnerinnen auf diese Weise verunsichern können! Legendär ist das Interview mit Madonna von 1994[6] – sie wird Dich sicher nie vergessen!

Musik ist für Dich, so der Titel eines Deiner Bücher, ein Lebensgefühl.[7] Eine musikalische Anthologie von Musik, die Dir viel bedeutet, hast Du aufgelegt – zumindest lese ich einen Prospekt über „Willemsen legt auf“. Sieben Jahre 15minütige Radiosendungen, 279 Folgen insgesamt, in denen Du „Deine“ Musik kommentiert und „Deine“ Musikerinnen und Musiker vorgestellt hast.

Und dann Deine jugendliche Liebe zu Karl May:[8] „Ein Schuss, ein Schrei. Das Meiste von Karl May“ heißt ein Buch von Dir, in dem 23 Werke von May sicher satirisch, witzig und doch dem Gegenstand angemessen dargestellt werden, das hoffe ich zumindest. Es steht schon in meinem Buchregal.

Über die Lüge hast Du geschrieben,[9] über die Meinungsbildung[10] und über den Selbstmord[11]. Momente im Leben, die ein ganzes Leben verändern können – egal, in welche Richtung. Begegnungen mit Menschen und Orten hast Du in „Gute Tage“[12] gesammelt, und in „Kleine Lichter“[13] hast Du über Verlustangst, über „Ansprache“ im Sinne von ansprechendem Reden in Krankheits- und Sterbesituationen geschrieben.

Aber das alles weißt Du ja. Ich erzähle es auch eher mir selbst als Dir. Weißt Du, dies alles über Dich und von Dir entdeckend, lesend, hörend, sehend, hatte ich das Gefühl, da einem Bruder im Geiste zu begegnen. Da gibt es den Grundzug, aufschreiben zu müssen, was Dich bewegt, und ja, ich habe auch ein kleines Heft und den Stift am Leib oder im Gepäck. Ich könnte mit der Karl-May-Gesamtausgabe auf einem meiner Bücherschränke weitermachen, mit meiner Freude an Musik (seit ich siebzehn bin, singe ich in Chören). Bei mir sind es keine Interviews, aber es gibt wirklich nichts, was ich so sehr schätze wie ein gutes Gespräch zu Zweit, zu Dritt, zu Viert – bei mehr Menschen wird es für mich schwierig – und darin hoffe ich auf den Austausch über das Leben, über anstehende Themen und über das, was diese Themen mit uns machen. Gerne nenne ich das dann einen „Austausch unter Gefährtinnen und Gefährten“, oder auch „zeitlich begrenzte Gefährtenschaft und Weggemeinschaft“.

Dann könnte ich anschließen an Deine Lebensform, zwar ehelos, aber mit anderen eben in Gefährtenschaft zu leben. Zwar bin ich leidenschaftlicher Frühschläfer und sicher kein Nachtmensch wie Du,[14] zwar bin ich eher ängstlich und nicht so unternehmungslustig wie Du, was Reisen und Aufbrüche ins Fremde angeht, aber die Begegnung mit mir fremden Menschen, Kulturen und Positionen  schätze ich sehr – mir hilft allerdings dann dieses Wertschätzen in kleinen Portionen.

Am wichtigsten scheint mir als ein bestehendes festes Band zwischen Dir und mir die Unvoreingenommenheit zu den Menschen, mit denen wir unterwegs sind. Bei Dir könnte es vielleicht besser heißen: „… zu denen hin Du unterwegs bist“. Im Hinschauen und Hinhören kann nahezu jede Begegnung zu einem Abenteuer werden, und in nahezu jeder Begegnung gibt es die Möglichkeit zu lernen, was mich, was uns im Leben weiterbringt.

 

 

Lieber Roger, das wollte ich Dir gerne sagen, wirklich sagen! Vielleicht liegt es gerade an dieser Unvoreingenommenheit, von und mit Dir zu lernen, an dem Wunsch, Dir wirklich verbunden zu sein, ein Band der Freundschaft, der Bruderschaft, in meiner Sprache: der Gefährtenschaft zu knüpfen. Und das geht nicht vom Schreibtisch, am Mac sitzend und schreibend, oder mit einem Deiner Schriften in der Hand, lesend im Sessel. Dafür wollte ich herkommen, hier an den Ort, der Dein letzter Ort ist.

Für mich macht es einen gewaltigen Unterschied, nach diesem Besuch hier bei Dir – und nicht nur nach der Lektüre des „Knacks“ – Dich zu entdecken und mehr kennen zu lernen in Deinen Büchern. Für mich macht es einen lohnenden Unterschied zu verstehen, was Du in Deinen Büchern schreibst, aber auch den zu verstehen, der die Bücher geschrieben hat. Bei vielen Autorinnen und Autoren und deren Bücher genügt mir der Inhalt, in der Begegnung mit Dir ist mir der Autor beinahe wichtiger.

Ich wäre glücklich, wenn es dieses Band der Gefährtenschaft sich entwickeln könnte, Halt geben könnte, wenn ich mit Dir, wenn wir an dem einen Strang ziehen könnten: „Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen, als ich sie vorgefunden habe.“

Dank Dir für Dein Dasein und fürs Zuhören, Roger.

Mach’s gut, wir sehen uns.

Köln, 19.09.2023
Harald Klein

[1] vgl. Jan C. Behmann, behmannsblog.de, 13.Februar 2017, Inschrift übersetzt von Nadia Nashir, aufgerufen am 13. September 2021

[2] Willemsen, Roger (2017): Der Knacks, 17. Aufl., Frankfurt Main.

[3] Willemsen, Roger (2010): Die Enden der Erde, Frankfurt/Main.

[4] Willemsen, Roger/ Tooten, Ralf (2009): Bangkok noir, 2. Aufl., Frankfurt/Main.

[5] vgl. Wilke, Insa (2016): Der leidenschaftliche Zeitgenosse. Zum Werk von Roger Willemsen, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 15.

[6] vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=r_RxXz-z1VU [19.09.2023] – bes. die legendäre 21. Minute: Argentinien als Teil von Europa!

[7] Willemsen, Roger (2018): Musik! Über ein Lebensgefühl, Frankfurt/Main.

[8] Willemsen, Roger (2006): Ein Schuss, ein Schrei. Das Meiste von Karl May, Frankfurt/Main.

[9] Hildebrandt, Dieter/Willemsen, Roger (2009): „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“. Die Weltgeschichte der Lüge, Frankfurt/Mai.

[10] Willemsen, Roger (1999): Bild dir meine Meinung. Kritisches und Polemisches, Berlin.

[11] Willemsen, Roger (2007): Der Selbstmord. Briefe, Manifest, Literarische Texte, Frankfurt/Main.

[12] Willemsen, Roger /2004): Gute Tage. Begegnungen mit Menschen und Orten.

[13] Willemsen, Roger (2005): Kleine Lichter, Frankfurt/Main.

[14] Davon Zeugnis geben verschiedene Bücher von Roger Willemsen, z.B. Das süße Gift der Sünde (1990), Erotik (2004), Die andere Seite der Nacht (1998), Bangkok noir (2009) u.a.