Verw:ortet 06/2022: Welzer, Harald – Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens

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Einfach(?) aufhören

Ein mir lieber Freund sprach mich vor zwei Monaten auf das Buch und auf Harald Welzer an, den ich bislang nicht kannte. Weniger wegen des Stilmittels eines „Nachrufes auf mich selbst“ als wegen des im Untertitel aufgeführten Begriffs der „Kultur des Aufhörens“ griff ich zum Buch.

Kein Wunder, dass der 28jährige Freund mir dieses Buch empfahl: In der Generation der 20-30jährigen zeichnet sich nicht nur ab, dass Vertagen, Konferieren, Versuche einer Beschlussfassung nicht mehr in der Lage sind, die bedrängenden Fragen der Zeit zu beantworten, geschweigen denn, sie zu lösen. Es gilt in Vielem, einfach aufzuhören– was eben nicht „einfach“ ist. Diese Generation beginnt es meiner Generation vorzumachen – und irgendwo zwischen Ansporn zum Mitmachen und schamhaftem Belächeln ordne ich mich ein, haben wir uns einzuordnen.

Es war ein Herzinfarkt und die damit verbundene Neudeutung des Faktischen, dass den 1958 geborenen Soziologen, Sozialpsychologen und Publizisten Harald Welzer nach einer „Kultur des Aufhörens“ fragen ließ. Mit dem Mittel eines „Nachrufs auf sich selbst“ stellte er die grammatisch schwierige Frage nach einem Entwurf dessen, wie man sich entwickelt haben werden wolle. Dieser „Nachruf auf sich selbst“ bildet eine Rückschau aus einer imaginierten Zukunft – und bricht so die Diktatur der Gegenwart.

Eine ausführliche Rezension des „Nachruf auf mich selbst“ von Harald Welzer finden Sie hier. Seine „Zwölf Merksätze zur Beantwortung der Frage: Wer will ich gewesen sein?“ finden Sie ebenfalls in der Rezension. – Die Seitenzahlen (in Klammern nach den folgenden Zitaten) beziehen sich auf das Buch Welzer, Harald (2021): Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, 6. Aufl., Frankfurt/Main. Diesen Beitrag zu „verw:ortet im Juni 2022“ können Sie hier herunterladen.

Die Zitate

„Menschen existieren nicht nur in einer natürlichen Umwelt, sondern immer auch in einer selbst erschaffenen. Das nennen wir Kultur.“ (14)

„Wir sind ja nicht nur Gestalterinnen und Gestalter dieser Lebensform, sondern gleichzeitig von ihr gestaltet, und diese Gestaltung erfolgt nicht bewusst, sondern durch die Praxis.“ (14)

„Das alles bedeutet nur, dass Normalitätserwartungen extrem veränderlich sind, wie wir gerade im Zuge der Coronapandemie selbst erlebt haben, und mit ihnen die Verhaltensnormen und ihre emotionalen Entsprechungen.“ (36)

„Eine höchst eigentümliche Reaktionsbildung auf die Dissonanz, die daraus entsteht, dass man um jeden Preis ein Kulturmodell fortsetzen möchte, obwohl es auf objektive Grenzen, also auf die Tatsache der Endlichkeit stößt, ist diese: Man ersetzt Handlungen durch Ziele. Nur dann ist das 1,5-Grad-Ziel ‚systemkonform‘: Indem man das Problem von der Gegenwart in die Zukunft verschiebt, kann man Konferenzen veranstalten, Unterziele vereinbaren, die Autoindustrie fördern, Kohleausstieg 15 Jahre später oder auch früher vereinbaren usw. usf.“ (68)

„Moralische Überzeugungen sind nicht handlungsleitend, sondern geben uns eine Richtschnur dafür, welche Begründung dafür geeignet ist, eine falsche Handlung mit einem richtigen Bewusstsein in Deckung zu bringen. Das universelle Scharnierwort dafür heißt ‚eigentlich‘. Die Existenz dieses seltsamen Wortes selbst weist ja schon darauf hin, dass der Widerspruch zwischen Anspruch und Handlung etwas ganz Alltägliches ist.“ (81)

„Es wäre […] dringend an der Zeit, mit dem Mahnen und Warnen aufzuhören. Nicht nur, weil es habituell und biographisch bei jenen längst eingespeist ist, die seit mehreren Jahrzehnten, oft also lebenslang denselben Mahnungen und Warnungen (‚Es ist 5 vor 12!‘) ausgesetzt sind, ohne dass sich am wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Betriebssystem in der Entwicklungsrichtung auch nur das Geringste getan hätte. Sondern auch, weil der Wille zum Weltverbrauch mit der Intensität der Mahnungen und Warnungen offensichtlich nicht ab-, sondern zunimmt.“ (84)

„Angst ist das Signal zum Aufhören. Dort wo man die Situation nicht mehr beherrscht, hört man auf, wenn man bei Verstand ist.“ (146)

„Ich glaube, am Ende geht es nicht um die ars moriendi, also die Kunst zu sterben, sondern die ist lediglich die Voraussetzung, um gut leben zu können.“ (190f)

„Der beste Weg, Enttäuschungen zu vermeiden, ist, sie für realistisch zu halten. Das Leben ist bitter nur für die, die es sich süß vorstellen.“ (199)

„Nicht nur Aufhören muss man lernen, sondern auch die Fähigkeit, nicht jede verfügbare Zeiteinheit unter Nutzungskriterien zu betrachten.“ (212)

„Mitgefühl ist kostenlos, nützt aber nichts, wenn es ohne Handlungsfolgen bleibt. Erst Engagement verändert die Dinge.“ (234)

„Meine Fragen zielen auf unser Kulturmodell: Wie wollen wir leben? Wie bauen wir unser zivilisatorisches Projekt weiter? Wie garantieren wir Freiheit? Wenn man solche Fragen stellt, rückt die Technik an die Stelle, an die sie gehört: Sie dient zur und hilft bei der Realisierung einer Antwort, aber sie kann nie selbst die Antwort sein. Das ist nicht technikfeindlich, nur menschenfreundlich.“ (259)

Köln, 01.06.2022
Harald Klein