Verw:ortet 09/2023: Roger Willemsen – Der Knacks

  • Worte, auf denen ich stehe
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Ins Schwärmen kommen?

Ein langjähriger Freund, im Zen ebenso zu Hause wie in der Wissenschaft, schwärmte mir vor vielleicht fünf oder sechs Jahren von Roger Willemsens „Knacks“ vor. Ich habe verstanden, dass es um ein Buch geht, dass den Alltag und die Prägungen, die er mit sich bringt, und dass das Alltägliche, Wiederkehrende, Eingefahrene, fast möchte man sagen: das Ritualisierte als die Kraft beschreibt, die das Leben des Menschen prägt. Das beinahe schon seliggepriesene „Entscheiden“ – gerade in der ignatianische Spiritualität hochgehalten, aber auch in der Frage nach der Autonomie, der Selbst-Gesetzgebung des Menschen für sich selbst – dieses Sich-Lenken durch autonomes und vernunftgeleitetes Entscheiden und durchgehaltene Entschiedenheit bekommt hier eine – wirklich! – liebevolle Absage.

Gerne wäre ich mit dem Freund ins Schwärmen gekommen, es gelang aber nicht. Des Buches Inhalt entspricht dem Lebenslauf des Menschen, beginnend bei Geburt und Kindheit, endend mit dem Sterben. Dazwischen kurze Inhalte, die sich auf die Lebensstufen beziehen, Texte in Postkarten- bis in Briefbogen-Länge, mehr Skizzen denn Texte – der Musiker in mir ist an Schumanns „Papillons“ (Schmetterlinge) erinnert.

Um was es beim „Knacks“ geht und wie er sich auswirkt, erfährt man – der Anlage des Buchs gemäß – in Bruchstücken, die über alle Kapitel verstreut sind. Die Grundaussage steht im ersten der unten aufgeführten Zitate, einige andere Bruchstücke sind dann unten in den Zitaten festgehalten. Bleiben Sie neugierig.In einer Rezension habe ich das Buch aber auch kurz zusammengefasst.

Wie gesagt, auf diese Art von Literatur – übrigens sprachlich wunderschön, Chapeau, Herr Willemsen, war ich nicht gefasst und legte das Buch weg. Erst jetzt, sieben Jahre später, griff ich drauf zurück. Der Auslöser war ein Auftritt Willemsens in der Sendung „Willkommen Österreich“ aus dem Jahr 2011[1]. Der sympathische Auftritt, die unprätentiöse Weise des Redens, die Themen und der Witz, mit dem Willemsen sie präsentierte (ich weise hin auf die „Konträrfaszination“ des „Dschungelcamps“ und seine Schilderung des Interviews mit Madonna) – und vor allem sein unglaublicher Horizont in Sachen „Literatur“ ließen mich jetzt ins Schwärmen für diesen Autoren, Moderator, Filmemacher kommen.

Den „Knacks“ in seinem Aufbau habe ich verstanden, als Willemsen auf Nachfrage ein Notizbuch aus dem Jackett, in dem er Sätze, Begegnungen, Ideen sofort notiert, wenn sie in sein Sinnesfeld eintreten. Diese Notizen sammeln, sortieren, Themen (oder wie im Knacks: Lebensstufen) zuzuordnen, so mag sein Buch „Der Knacks“ entstanden sein.

Roger Willemsen erkrankte 2015 an Krebs und starb 2016 im Alter von 60 Jahren. Die Begegnung mit ihm zuerst bei seinen Auftritten in Talk-Shows oder als Moderator und dann in seinen Büchern (er hat „Heimweh nach Sprache“, sagt er, was man seinen Büchern anmerkt) hat mich nicht nur ins Schwärmen gebracht, sondern Hochachtung in mir geweckt. Ich spüre, dass sie bleibt!

Alle Zitate sind entnommen aus Willemsen, Roger (2008): Der Knacks, Frankfurt/Main. In Klammern sind die Seitenzahlen angegeben.

» Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? Wo setzte die Drift ein? Wann nahm das Sein-Lassen seine doppelte Bedeutung an als Tolerieren und Aufgeben? Wann wurde aus ‚Milde‘ ein Indiz für Ermüdung? Was breitete sich an der Stelle aus, wo sich ehemals Möglichkeiten zeigten? Welche Laster hat die Kapitulation hervorgetrieben? «
Willemsen, Roger (2008): Der Knacks, 7. Aufl., Frankfurt/Main, 25.

Die Zitate

„Roger Willemsen erkennt den Knacks in der Landschaft und unseren Städten, in Armut und Obdachlosigkeit, im 11. September und in den Lagern von Guantánamo. Der Knacks ist in der Welt, aber der Knacks ist auch in uns – in unserem Scheitern so sehr wie in unseren vermeintlichen Siegen.“ (Vordere Umschlagseite)

„So betrachtet ist der Knacks weniger der harte Bruch im Leben als der unmerkliche Übergang. Immer und überall geht er vonstatten, in uns und um uns herum: eine Farbveränderung ins Dunkle, ein Abfallen der Temperatur, ein Wechsel von Dur zu Moll. Es kann der Einzug der Enttäuschung sein oder des Alters, der Moment, an dem etwas an sein Ende gelangt und sich am Horizont zum ersten Mal der Tod zeigt. Nicht wie ein Sprung markiert dieser Knacks sein Objekt, sondern wie die Risse in der Oberfläche eines alten Bildes.“ (Vordere Umschlagseite)

„Alles dunkelt nach oder bleicht aus, alles bricht und vergeht, alles ändert Farbe und Aroma, und nur im Spott nennt man die Welt eine ‚heile Welt‘, wohl wissend: Auch sie hat ihren Knacks. Der Knacks: Im Sog der Verluste ist er der Sog.“ (7)

Anlässlich des Unfalltodes eines Schulfreundes: „Auch die Nachricht von seinem Tod an jenem Augustnachmittag war nicht der Knacks. Dies alles waren Schocks, Detonationen, Implosionen. Der Knacks war […] das wiedergefundene Unwiederbringliche.“ (19)

„Der Knacks verläuft nicht durch die Handlung, sondern durch das Bild.“ (23)

„In ihm (i.e. im Knacks; H.K.) kristallisieren sich Persönlichkeiten aus, indem sie sich aufgeben.“ (23)

„Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? Wo setzte die Drift ein? Wann nahm das Sein-Lassen seine doppelte Bedeutung an als Tolerieren und Aufgeben? Wann wurde aus ‚Milde‘ ein Indiz für Ermüdung? Was breitete sich an der Stelle aus, wo sich ehemals Möglichkeiten zeigten? Welche Laster hat die Kapitulation hervorgetrieben?‘“ (25)

„Die Liebe war also so etwas wie die Kraft, den Knacks zu revidieren.“ (46)

„Was unterscheidet den ‚Knacks‘ vom Trauma der Psychoanalyse? Freuds Trauma besitzt eine andere Ereignisentwicklung und Ereignisentfaltung, und auch seine Zeitökonomie ist eine ganz andere. Das Trauma besteht, psychoanalytisch gesehen, darin, dass das Ereignis eintritt und sich immer wiederholt, ohne dass dieses Ereignis bewusst wäre; es bahnt sich Wege, ist also latent gegenwärtig. Erst in der Erinnerung wird das Ereignis hinfällig, erscheint, um verschwinden zu können. […] Im Knacks dagegen verdichten sich die Ereignisse, die nicht vorhanden sind. Gleichwohl hören sie nicht auf zu existieren, sie beginnen vielmehr, das ganze Leben zu überfluten. Insofern vollzieht sich im Knacks ein eigenes Drama. Der Problemkern ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft.“ (57f)

„Die Sprache für den Knacks ist das Fragment. Fragmente sprechen nicht vom Ganzen, Intakten, ihre Vollendung liegt in ihrer Gebrochenheit.“ (62)

„Der Knacks […] bietet sich nicht zur monokausalen Deutung an. Er ist eher Wandlung, Verschiebung, Temperatursturz, ein Umschlagen des Tongeschlechtes, ein Wechsel des Kolorits, eine atmosphärische Verlagerung, ein Wechsel, der die Instabilität sämtlicher Kategorien verrät, ein Schattenfeld. Es ist alles noch da, aber man ist nicht mehr dabei, nicht in der Mitte, nicht Gegenstand des Bildes, und der Raum, in dem man ankommt, ist weder heimisch noch mit Illusionen ausgestattet. Die Bewegung des Schocks geht for allem in die Tiefe, die Bewegung im Knacks dagegen geht in die Fläche.“ (62f)

„Der Knacks ist produktives Zentrum und zugleich unscheinbar, er treibt und vereitelt zugleich den Gedanken, und alles Kiffen und Trinken und Küssen, alles Schreiben macht nicht, dass er verschwindet, und alle Gewohnheiten, Rituale und Stützen in der Konvention sind nichts anderes als Stabilisierungsversuche.“(66f)

„Ankommen in der Vergangenheit der Zukunft, wenn auf diese Zeit das Licht der Retrospektive fällt: Wir werden uns in dem erkennen, was wir geworden sein werden, und in dem, was verdammt war, zu verschwinden.“ (92)

„Die wichtigsten Dinge erschließen sich retrospektiv, sind unbemerkt ins Leben gekommen und sinken allmählich tiefer. Der Knacks der Endlichkeit, wann, in welcher Situation wird er bewusst?“ (138f)

„Der in seinem Knacks unerreichbare Mensch schützt seinen Knacks und in ihm das Intime. Das Unaussprechliche ist mit dem Heimlichen verwachsen. Inzwischen aber wurde der Sex, als Inbegriff des Intimen, abgelöst von der Wunde. Von ihr wird öffentlich nicht gesprochen, der Unzuverlässigkeit wegen, die eine Persönlichkeit annimmt, wo sie ihre Handlungen aus einer so unreinen Quelle ableitet.“ (151)

„Menschen können sich kennenlernen und einander fragen: ‚Wo hast du deine Wirklichkeit?‘ Und einer würde erwidern: ‚Im Enthusiasmus, in der Enttäuschung, im Heimweh.‘ – ‚Das ist doch keine Wirklichkeit‘, würde er zur Antwort erhalten, ‚das sind doch bloß Formen, sie zu suchen.‘“ (188)

„Meine Heimat liegt in Sätzen, der Ahnung von Lebensläufen und der Spur, die sie in der Landschaft der Kindheit hinterlassen haben. Es sind Dinge, die man fühlen kann. Man kehrt heim und fühlt sich gleich einsamer. Weil Heimat nicht ist. Weil sie, je näher man ihr kommt, immer fremder zurückblickt.“ (214)

„Wenn sich Eruptionen, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Beben andeuten, dann wird kurz bewusst, dass Menschen ein ‚Individuum‘ Welt bewohnen, einen unfesten, aktiven, brüchigen Körper, der nicht schwankt und taumelt, aber sich doch verschleißt oder schleichend verdirbt wie saurer Boden, wie ein umgekipptes Gewässer. So schleicht sich der Knacks in die Natur, die Krankheit der Welt mit Namen Homo sapiens.“ (217)

„Die Metapher von der ‚Lebensreise‘ wörtlich genommen: Die Geschwindigkeit verhindert die Betrachtung des Einmaligen. Man kann nur sehen, was man schon gesehen hat. Der Hochgeschwindigkeitsreisende fährt vorbei, um es hinter sich zu haben. Es ist ein Reisen mit geschlossenem Fenster. Der Knacks dagegen ist etwas, das im Zeichen einer beschleunigten Zeit, einer, die Bewegung meint, nicht erscheinen kann.“ (222f)

„Außer Atem ist er – eigentlich ein Euphemismus für ’tot‘.“ (239)

„Dieses furchtbare Altern, immer mehr Erfahrungen, immer weniger Kraft, sie zu organisieren.“ (277)

„Der Tod ist nicht nur für die schlimm, die ihn begreifen. Aber diese könnten Subjekt und Objekt ihres Sterbens zugleich sein und sagen: Ich sterbe mich.“ (289)

Köln, 28.08.2023
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=p6-jxAiicfk [28.08.2023] und [online] https://www.youtube.com/watch?v=thmczk9khdw[28.08.2023] und [online] https://www.youtube.com/watch?v=Sfju9j-5mAA&t=21s [28.08.2023]